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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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manche Reliquie des Mittelalters wurde auch für die Gegenwart
erhalten. Unter den Zimmern, welche für den heutigen Gebrauch be¬
stimmt sind, ist z. B. eines merkwürdig genug, in dem sich Decken¬
gemälde, biblische Geschichten darstellend und vielfach mit alten, zum
Theil jetzt verschollenen Wappen geschmückt, wohl erhalten dem Blicke
darstellen. -- Wenn man aber aus dem bewohnten Flügel des Schlos¬
ses hinübergeht nach jener Seite, aus welcher der Thurm emporsteigt,
so gelangt man dicht an dessen Wendeltreppe in eine kleine niedere'
Thür. Diese führt in eine jetzt unbenutzte Kirche. Prächtige Bild¬
hauerarbeit und vielfache Malereien ziehen sich an den Wänden hin
und blendende Vergoldung drängt sich aus dem Schütte des Verfal¬
les an und über dem Altar noch hervor. Dort stehen auch in den
Mauern die Bildnisse mancher alten Herrn des Schlosses und in
Fetzen zerfallend prangen dort erbeutete Fähnlein aus der Zeit, da
noch das Faustrecht galt. Aus derselben Thür aber, durch welche
wir eintraten, geht auch in Zeiten des Unglücks ein Geist. "Die
grüne Jungfer" nennt man ihn. Und wenn irgend eines der Glieder
der Herrschaftsfamilie krank daniederliegt, so lauschen allnächtlich die
Leute des Hauses mit bangem Seelenschauer. Denn so lang die
grüne Jungfer nicht erscheint, stirbt der geliebte Kranke nicht. Aber
wenn es zum Letzten kommt, so schwebt sie aus jener kleinen Kirchen¬
pforte über die offene Hofgallerie durch die Zimmerreihen nach dem
Krankenbett, bleibt tief seufzend vor dem Kranken stehen und schreitet
dann wieder geräuschlos ihrer stillen Wohnung zu. So sehen sie die
Menschen in drei aufeinanderfolgenden Nächten und in der letzten
stirbt der Kranke. -- Es schleicht überhaupt noch manche bange Sage
in den Räumen des alten Schlosses und mancherlei Spukgestalten
sind darinnen lebendig. So hört man's auch oben in der Rüstkam¬
mer, wo noch mancherlei Wehr, Waffen und Hausgeräth aus alter
Zeit aufbewahrt steht, mitunter seltsam rumoren und poltern. Dies
gilt auch als Vorzeichen naher Geschicke. -- Aber die befangendste
Sage haftet an einem kleinen, frischgrünen Birkenbäumchen. Dieses
wuchs aus den Fugen eines hervorspringenden Steines, in einer Nische,
aus welcher das Heiligenbild herausgcstürzt scheint, dicht über der
Wölbung eines Nebenthores des Schloßgebäudes. Es war nämlich
vor vielen hundert Jahren ein Herr von Sacken, ein harter, wilder,
waidlustigcr Mann. Und als er einstmals den Bären jagte, sah er


manche Reliquie des Mittelalters wurde auch für die Gegenwart
erhalten. Unter den Zimmern, welche für den heutigen Gebrauch be¬
stimmt sind, ist z. B. eines merkwürdig genug, in dem sich Decken¬
gemälde, biblische Geschichten darstellend und vielfach mit alten, zum
Theil jetzt verschollenen Wappen geschmückt, wohl erhalten dem Blicke
darstellen. — Wenn man aber aus dem bewohnten Flügel des Schlos¬
ses hinübergeht nach jener Seite, aus welcher der Thurm emporsteigt,
so gelangt man dicht an dessen Wendeltreppe in eine kleine niedere'
Thür. Diese führt in eine jetzt unbenutzte Kirche. Prächtige Bild¬
hauerarbeit und vielfache Malereien ziehen sich an den Wänden hin
und blendende Vergoldung drängt sich aus dem Schütte des Verfal¬
les an und über dem Altar noch hervor. Dort stehen auch in den
Mauern die Bildnisse mancher alten Herrn des Schlosses und in
Fetzen zerfallend prangen dort erbeutete Fähnlein aus der Zeit, da
noch das Faustrecht galt. Aus derselben Thür aber, durch welche
wir eintraten, geht auch in Zeiten des Unglücks ein Geist. „Die
grüne Jungfer" nennt man ihn. Und wenn irgend eines der Glieder
der Herrschaftsfamilie krank daniederliegt, so lauschen allnächtlich die
Leute des Hauses mit bangem Seelenschauer. Denn so lang die
grüne Jungfer nicht erscheint, stirbt der geliebte Kranke nicht. Aber
wenn es zum Letzten kommt, so schwebt sie aus jener kleinen Kirchen¬
pforte über die offene Hofgallerie durch die Zimmerreihen nach dem
Krankenbett, bleibt tief seufzend vor dem Kranken stehen und schreitet
dann wieder geräuschlos ihrer stillen Wohnung zu. So sehen sie die
Menschen in drei aufeinanderfolgenden Nächten und in der letzten
stirbt der Kranke. — Es schleicht überhaupt noch manche bange Sage
in den Räumen des alten Schlosses und mancherlei Spukgestalten
sind darinnen lebendig. So hört man's auch oben in der Rüstkam¬
mer, wo noch mancherlei Wehr, Waffen und Hausgeräth aus alter
Zeit aufbewahrt steht, mitunter seltsam rumoren und poltern. Dies
gilt auch als Vorzeichen naher Geschicke. — Aber die befangendste
Sage haftet an einem kleinen, frischgrünen Birkenbäumchen. Dieses
wuchs aus den Fugen eines hervorspringenden Steines, in einer Nische,
aus welcher das Heiligenbild herausgcstürzt scheint, dicht über der
Wölbung eines Nebenthores des Schloßgebäudes. Es war nämlich
vor vielen hundert Jahren ein Herr von Sacken, ein harter, wilder,
waidlustigcr Mann. Und als er einstmals den Bären jagte, sah er


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[0519] manche Reliquie des Mittelalters wurde auch für die Gegenwart erhalten. Unter den Zimmern, welche für den heutigen Gebrauch be¬ stimmt sind, ist z. B. eines merkwürdig genug, in dem sich Decken¬ gemälde, biblische Geschichten darstellend und vielfach mit alten, zum Theil jetzt verschollenen Wappen geschmückt, wohl erhalten dem Blicke darstellen. — Wenn man aber aus dem bewohnten Flügel des Schlos¬ ses hinübergeht nach jener Seite, aus welcher der Thurm emporsteigt, so gelangt man dicht an dessen Wendeltreppe in eine kleine niedere' Thür. Diese führt in eine jetzt unbenutzte Kirche. Prächtige Bild¬ hauerarbeit und vielfache Malereien ziehen sich an den Wänden hin und blendende Vergoldung drängt sich aus dem Schütte des Verfal¬ les an und über dem Altar noch hervor. Dort stehen auch in den Mauern die Bildnisse mancher alten Herrn des Schlosses und in Fetzen zerfallend prangen dort erbeutete Fähnlein aus der Zeit, da noch das Faustrecht galt. Aus derselben Thür aber, durch welche wir eintraten, geht auch in Zeiten des Unglücks ein Geist. „Die grüne Jungfer" nennt man ihn. Und wenn irgend eines der Glieder der Herrschaftsfamilie krank daniederliegt, so lauschen allnächtlich die Leute des Hauses mit bangem Seelenschauer. Denn so lang die grüne Jungfer nicht erscheint, stirbt der geliebte Kranke nicht. Aber wenn es zum Letzten kommt, so schwebt sie aus jener kleinen Kirchen¬ pforte über die offene Hofgallerie durch die Zimmerreihen nach dem Krankenbett, bleibt tief seufzend vor dem Kranken stehen und schreitet dann wieder geräuschlos ihrer stillen Wohnung zu. So sehen sie die Menschen in drei aufeinanderfolgenden Nächten und in der letzten stirbt der Kranke. — Es schleicht überhaupt noch manche bange Sage in den Räumen des alten Schlosses und mancherlei Spukgestalten sind darinnen lebendig. So hört man's auch oben in der Rüstkam¬ mer, wo noch mancherlei Wehr, Waffen und Hausgeräth aus alter Zeit aufbewahrt steht, mitunter seltsam rumoren und poltern. Dies gilt auch als Vorzeichen naher Geschicke. — Aber die befangendste Sage haftet an einem kleinen, frischgrünen Birkenbäumchen. Dieses wuchs aus den Fugen eines hervorspringenden Steines, in einer Nische, aus welcher das Heiligenbild herausgcstürzt scheint, dicht über der Wölbung eines Nebenthores des Schloßgebäudes. Es war nämlich vor vielen hundert Jahren ein Herr von Sacken, ein harter, wilder, waidlustigcr Mann. Und als er einstmals den Bären jagte, sah er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/519>, abgerufen am 23.07.2024.