Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

worden. An meiner Seele nagt der Gram und die Furcht, die hei¬
lige Kirche, die mit Millionen geheimen Armen die Welt umstrickt,
habe ihre zarte Seelsorge bis auf das Kind erstreckt, es in ihren
Schutz genommen, damit in seiner jungen Seele nicht der heidnische
Geist, der von seiner Mutter auf die Lebenden des Hauses überge¬
gangen sein sollte, lebendig werde. O wofern es Blicke gibt, die in
das Gewebe menschlicher Leidenschaften und heilig gesprochener Vor¬
urtheile dringen, Bundesbrüder, von Nah und Fern, aus allen Zonen
zusammengeführt, wofern Ihr von dem Verrath, der im Verborgenen
schleicht, Kunde habt, gebt mir Gewißheit: lebt mein Sohn Giuseppe
noch, oder muß ich ihn einen Stern unter Sternen, eine Blume des
Paradieses, im Lande Jenseits suchen?

Ich sprach es mit der ganzen Gewalt meines entfesselten Schmer¬
zes; ich wußte nicht, an wen ich meine Worte zu richten hatte, ich
sprach es zu Allen in der Versammlung und mein Auge irrte suchend
umher, mein Ohr lauschte, von wannen mir Kunde würde. Auf die
stille Pause erfolgte ein elektrischer Schlag, der die Kerzen im Saale
löschte. Die Rotunde war in Nacht gehüllt, kein Athem in der Ver¬
sammlung war hörbar. Ich kniete nieder und hörte nur den Puls
meines stürmischen Herzens. Plötzlich ertönte eine ferne Musik wie
Aeolsklang und in den Blättern der riesigen Lotosblume, die in der
Mitte des Saals sich wie eine Palme gen Himmel hob, stiegen bläu¬
liche Flammen, die den gestirnten Himmel an der Kuppel des Ge¬
wölbes erleuchteten. Dein Herz ist rein, Dein Gebet ist erhört! er¬
tönte jetzt der Gesang und aus den Nebeln, die sich über dem Kelch
der Lotosblume zu dichten Wolken und Wellen sammelten, hob sich
allmälig die lichte Gestalt eines greisen Mannes im Talar des Mor¬
genlandes. Er saß auf einem Eiland, und die Fluthen des Meeres
schäumten zu seinen Füßen. Ich kannte diesen weißen Bart, ich kannte
die milden, schüchternen Züge dieses Antlitzes, das sanfte, kluge Leuch¬
ten dieser dunklen Augen und die schmerzlich lächelnde Lippe, die von
der Thorheit der Welt zu reden wußte und doch so schweigsam war.
Die Gestalt sah starr auf mich nieder, ich bemerkte nicht, daß sie die
Lippen bewegte, und doch hörte ich die leise Stimme des Alten: Dein
Glaube hat Dir geholfen! Er hatte mit beiden Händen den Busen
des Talars umschlossen, er lüftete das Gewand: ein blühender Knabe
lag schlafend an seinem Herzen. Er lebt, er lebt! rief ich. Das ist


worden. An meiner Seele nagt der Gram und die Furcht, die hei¬
lige Kirche, die mit Millionen geheimen Armen die Welt umstrickt,
habe ihre zarte Seelsorge bis auf das Kind erstreckt, es in ihren
Schutz genommen, damit in seiner jungen Seele nicht der heidnische
Geist, der von seiner Mutter auf die Lebenden des Hauses überge¬
gangen sein sollte, lebendig werde. O wofern es Blicke gibt, die in
das Gewebe menschlicher Leidenschaften und heilig gesprochener Vor¬
urtheile dringen, Bundesbrüder, von Nah und Fern, aus allen Zonen
zusammengeführt, wofern Ihr von dem Verrath, der im Verborgenen
schleicht, Kunde habt, gebt mir Gewißheit: lebt mein Sohn Giuseppe
noch, oder muß ich ihn einen Stern unter Sternen, eine Blume des
Paradieses, im Lande Jenseits suchen?

Ich sprach es mit der ganzen Gewalt meines entfesselten Schmer¬
zes; ich wußte nicht, an wen ich meine Worte zu richten hatte, ich
sprach es zu Allen in der Versammlung und mein Auge irrte suchend
umher, mein Ohr lauschte, von wannen mir Kunde würde. Auf die
stille Pause erfolgte ein elektrischer Schlag, der die Kerzen im Saale
löschte. Die Rotunde war in Nacht gehüllt, kein Athem in der Ver¬
sammlung war hörbar. Ich kniete nieder und hörte nur den Puls
meines stürmischen Herzens. Plötzlich ertönte eine ferne Musik wie
Aeolsklang und in den Blättern der riesigen Lotosblume, die in der
Mitte des Saals sich wie eine Palme gen Himmel hob, stiegen bläu¬
liche Flammen, die den gestirnten Himmel an der Kuppel des Ge¬
wölbes erleuchteten. Dein Herz ist rein, Dein Gebet ist erhört! er¬
tönte jetzt der Gesang und aus den Nebeln, die sich über dem Kelch
der Lotosblume zu dichten Wolken und Wellen sammelten, hob sich
allmälig die lichte Gestalt eines greisen Mannes im Talar des Mor¬
genlandes. Er saß auf einem Eiland, und die Fluthen des Meeres
schäumten zu seinen Füßen. Ich kannte diesen weißen Bart, ich kannte
die milden, schüchternen Züge dieses Antlitzes, das sanfte, kluge Leuch¬
ten dieser dunklen Augen und die schmerzlich lächelnde Lippe, die von
der Thorheit der Welt zu reden wußte und doch so schweigsam war.
Die Gestalt sah starr auf mich nieder, ich bemerkte nicht, daß sie die
Lippen bewegte, und doch hörte ich die leise Stimme des Alten: Dein
Glaube hat Dir geholfen! Er hatte mit beiden Händen den Busen
des Talars umschlossen, er lüftete das Gewand: ein blühender Knabe
lag schlafend an seinem Herzen. Er lebt, er lebt! rief ich. Das ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0407" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/269822"/>
            <p xml:id="ID_1168" prev="#ID_1167"> worden. An meiner Seele nagt der Gram und die Furcht, die hei¬<lb/>
lige Kirche, die mit Millionen geheimen Armen die Welt umstrickt,<lb/>
habe ihre zarte Seelsorge bis auf das Kind erstreckt, es in ihren<lb/>
Schutz genommen, damit in seiner jungen Seele nicht der heidnische<lb/>
Geist, der von seiner Mutter auf die Lebenden des Hauses überge¬<lb/>
gangen sein sollte, lebendig werde. O wofern es Blicke gibt, die in<lb/>
das Gewebe menschlicher Leidenschaften und heilig gesprochener Vor¬<lb/>
urtheile dringen, Bundesbrüder, von Nah und Fern, aus allen Zonen<lb/>
zusammengeführt, wofern Ihr von dem Verrath, der im Verborgenen<lb/>
schleicht, Kunde habt, gebt mir Gewißheit: lebt mein Sohn Giuseppe<lb/>
noch, oder muß ich ihn einen Stern unter Sternen, eine Blume des<lb/>
Paradieses, im Lande Jenseits suchen?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1169" next="#ID_1170"> Ich sprach es mit der ganzen Gewalt meines entfesselten Schmer¬<lb/>
zes; ich wußte nicht, an wen ich meine Worte zu richten hatte, ich<lb/>
sprach es zu Allen in der Versammlung und mein Auge irrte suchend<lb/>
umher, mein Ohr lauschte, von wannen mir Kunde würde. Auf die<lb/>
stille Pause erfolgte ein elektrischer Schlag, der die Kerzen im Saale<lb/>
löschte. Die Rotunde war in Nacht gehüllt, kein Athem in der Ver¬<lb/>
sammlung war hörbar. Ich kniete nieder und hörte nur den Puls<lb/>
meines stürmischen Herzens. Plötzlich ertönte eine ferne Musik wie<lb/>
Aeolsklang und in den Blättern der riesigen Lotosblume, die in der<lb/>
Mitte des Saals sich wie eine Palme gen Himmel hob, stiegen bläu¬<lb/>
liche Flammen, die den gestirnten Himmel an der Kuppel des Ge¬<lb/>
wölbes erleuchteten. Dein Herz ist rein, Dein Gebet ist erhört! er¬<lb/>
tönte jetzt der Gesang und aus den Nebeln, die sich über dem Kelch<lb/>
der Lotosblume zu dichten Wolken und Wellen sammelten, hob sich<lb/>
allmälig die lichte Gestalt eines greisen Mannes im Talar des Mor¬<lb/>
genlandes. Er saß auf einem Eiland, und die Fluthen des Meeres<lb/>
schäumten zu seinen Füßen. Ich kannte diesen weißen Bart, ich kannte<lb/>
die milden, schüchternen Züge dieses Antlitzes, das sanfte, kluge Leuch¬<lb/>
ten dieser dunklen Augen und die schmerzlich lächelnde Lippe, die von<lb/>
der Thorheit der Welt zu reden wußte und doch so schweigsam war.<lb/>
Die Gestalt sah starr auf mich nieder, ich bemerkte nicht, daß sie die<lb/>
Lippen bewegte, und doch hörte ich die leise Stimme des Alten: Dein<lb/>
Glaube hat Dir geholfen! Er hatte mit beiden Händen den Busen<lb/>
des Talars umschlossen, er lüftete das Gewand: ein blühender Knabe<lb/>
lag schlafend an seinem Herzen. Er lebt, er lebt! rief ich. Das ist</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0407] worden. An meiner Seele nagt der Gram und die Furcht, die hei¬ lige Kirche, die mit Millionen geheimen Armen die Welt umstrickt, habe ihre zarte Seelsorge bis auf das Kind erstreckt, es in ihren Schutz genommen, damit in seiner jungen Seele nicht der heidnische Geist, der von seiner Mutter auf die Lebenden des Hauses überge¬ gangen sein sollte, lebendig werde. O wofern es Blicke gibt, die in das Gewebe menschlicher Leidenschaften und heilig gesprochener Vor¬ urtheile dringen, Bundesbrüder, von Nah und Fern, aus allen Zonen zusammengeführt, wofern Ihr von dem Verrath, der im Verborgenen schleicht, Kunde habt, gebt mir Gewißheit: lebt mein Sohn Giuseppe noch, oder muß ich ihn einen Stern unter Sternen, eine Blume des Paradieses, im Lande Jenseits suchen? Ich sprach es mit der ganzen Gewalt meines entfesselten Schmer¬ zes; ich wußte nicht, an wen ich meine Worte zu richten hatte, ich sprach es zu Allen in der Versammlung und mein Auge irrte suchend umher, mein Ohr lauschte, von wannen mir Kunde würde. Auf die stille Pause erfolgte ein elektrischer Schlag, der die Kerzen im Saale löschte. Die Rotunde war in Nacht gehüllt, kein Athem in der Ver¬ sammlung war hörbar. Ich kniete nieder und hörte nur den Puls meines stürmischen Herzens. Plötzlich ertönte eine ferne Musik wie Aeolsklang und in den Blättern der riesigen Lotosblume, die in der Mitte des Saals sich wie eine Palme gen Himmel hob, stiegen bläu¬ liche Flammen, die den gestirnten Himmel an der Kuppel des Ge¬ wölbes erleuchteten. Dein Herz ist rein, Dein Gebet ist erhört! er¬ tönte jetzt der Gesang und aus den Nebeln, die sich über dem Kelch der Lotosblume zu dichten Wolken und Wellen sammelten, hob sich allmälig die lichte Gestalt eines greisen Mannes im Talar des Mor¬ genlandes. Er saß auf einem Eiland, und die Fluthen des Meeres schäumten zu seinen Füßen. Ich kannte diesen weißen Bart, ich kannte die milden, schüchternen Züge dieses Antlitzes, das sanfte, kluge Leuch¬ ten dieser dunklen Augen und die schmerzlich lächelnde Lippe, die von der Thorheit der Welt zu reden wußte und doch so schweigsam war. Die Gestalt sah starr auf mich nieder, ich bemerkte nicht, daß sie die Lippen bewegte, und doch hörte ich die leise Stimme des Alten: Dein Glaube hat Dir geholfen! Er hatte mit beiden Händen den Busen des Talars umschlossen, er lüftete das Gewand: ein blühender Knabe lag schlafend an seinem Herzen. Er lebt, er lebt! rief ich. Das ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/407
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/407>, abgerufen am 29.06.2024.