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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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es mußten in seiner Sache erstaunliche Beamtenwillkürlichkeiten vor¬
gefallen sein. Außer diesem jungen Kaufmann war mein Zimmer¬
genosse ein psychologisch höchst merkwürdiger Mann aus der Juden¬
stadt und ein wegen Diebstahl in Eisen wandelnder Schneider. Letz¬
terer war mehr zur Bedienung da. Der Kaufmann hatte eigenes
Bett, der Judenftadtbürger nur einen eigenen Kopfpolster, ich und
der Schneider lagen der ganzen Länge nach auf den Strohsäcken
unter flohbesäeten Kotzendecken. Wanzen hatten wir da in die Mil¬
lionen. So traurig und qualvoll aber die bißreichen Nächte waren,
so lustig ging'S bei Tage zu. Ich habe in meinem Leben nicht so
viele Original-Mensche" in Einem Loch beisammen gesehen als hier,
denn ich stand mitten unter etwa dreißig Bankrottirern und Schuld¬
nern, unter Juden und Christen, Krämern, Hausirern, Speculanten
und herrschaftlichen Jägern. Lauter Originale, sag' ich Dir. Es
ging lebhaft zu, es wurde gegessen und getrunken, gelacht und ge¬
seufzt, geplaudert und hingebrütet; prachtvolle Skandalgeschichten und
zum Weinen langweilige Erlebnisse kamen zu hören; dazwischen Kar¬
tenspiel und Damenbesuch in der Vorhalle. Ueber der Thüre eines
Zimmers waren vier Krebsschalen aufgehangen: das nannten die
kindischen Mordkerle ihr Kaffeehaus "zu den vier Krebsen." Ein Bün-
deljud' vom Land wohnte drin, der mit Kaffee und Branntwein Klein-
geschäftSmachcrei im Scherz trieb. Ich habe mir all die Originale
in Gedanken skizzirt und will sie einmal ganz ergötzlich im Roman
zur Schau stellen. Was ich da Neues und Interessantes
erlebte, davon schweige ich für dies Mal, mein lieber Al¬
ter. Man hätte mir keinen größern Gefallen thun können als mich
da hineinznspcrren. Wenn es Abend werden wollte, gingen wir in
unsern Park; das war der lange Gang unserer Etage, links die
Bureallthüren, rechts die Fenster in den Hof. Die Fenstervertiefun¬
gen nannte man die Seitenalleen. Eines Morgens entstand plötzlich
großer Lärm; es hieß, der König von Preußen werde an unsern
Fenstern vorüberfahren, begleitet vom Erzherzog Stephan. Es bestä¬
tigte sich wirklich . . . und ich mußte eingesperrt sein! Der lange
Schneider und noch Einige hatten sich mit Blitzesschnelle am ver¬
mauerten Fenster in die Höhe gearbeitet und sahen ihn oder vielmehr
seine Pferde und seinen Reisewagen; ich aber war theils zu wenig
angespornt, theils nicht langwüchsig genug, um bis zur unvermauer-


es mußten in seiner Sache erstaunliche Beamtenwillkürlichkeiten vor¬
gefallen sein. Außer diesem jungen Kaufmann war mein Zimmer¬
genosse ein psychologisch höchst merkwürdiger Mann aus der Juden¬
stadt und ein wegen Diebstahl in Eisen wandelnder Schneider. Letz¬
terer war mehr zur Bedienung da. Der Kaufmann hatte eigenes
Bett, der Judenftadtbürger nur einen eigenen Kopfpolster, ich und
der Schneider lagen der ganzen Länge nach auf den Strohsäcken
unter flohbesäeten Kotzendecken. Wanzen hatten wir da in die Mil¬
lionen. So traurig und qualvoll aber die bißreichen Nächte waren,
so lustig ging'S bei Tage zu. Ich habe in meinem Leben nicht so
viele Original-Mensche» in Einem Loch beisammen gesehen als hier,
denn ich stand mitten unter etwa dreißig Bankrottirern und Schuld¬
nern, unter Juden und Christen, Krämern, Hausirern, Speculanten
und herrschaftlichen Jägern. Lauter Originale, sag' ich Dir. Es
ging lebhaft zu, es wurde gegessen und getrunken, gelacht und ge¬
seufzt, geplaudert und hingebrütet; prachtvolle Skandalgeschichten und
zum Weinen langweilige Erlebnisse kamen zu hören; dazwischen Kar¬
tenspiel und Damenbesuch in der Vorhalle. Ueber der Thüre eines
Zimmers waren vier Krebsschalen aufgehangen: das nannten die
kindischen Mordkerle ihr Kaffeehaus „zu den vier Krebsen." Ein Bün-
deljud' vom Land wohnte drin, der mit Kaffee und Branntwein Klein-
geschäftSmachcrei im Scherz trieb. Ich habe mir all die Originale
in Gedanken skizzirt und will sie einmal ganz ergötzlich im Roman
zur Schau stellen. Was ich da Neues und Interessantes
erlebte, davon schweige ich für dies Mal, mein lieber Al¬
ter. Man hätte mir keinen größern Gefallen thun können als mich
da hineinznspcrren. Wenn es Abend werden wollte, gingen wir in
unsern Park; das war der lange Gang unserer Etage, links die
Bureallthüren, rechts die Fenster in den Hof. Die Fenstervertiefun¬
gen nannte man die Seitenalleen. Eines Morgens entstand plötzlich
großer Lärm; es hieß, der König von Preußen werde an unsern
Fenstern vorüberfahren, begleitet vom Erzherzog Stephan. Es bestä¬
tigte sich wirklich . . . und ich mußte eingesperrt sein! Der lange
Schneider und noch Einige hatten sich mit Blitzesschnelle am ver¬
mauerten Fenster in die Höhe gearbeitet und sahen ihn oder vielmehr
seine Pferde und seinen Reisewagen; ich aber war theils zu wenig
angespornt, theils nicht langwüchsig genug, um bis zur unvermauer-


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[0186] es mußten in seiner Sache erstaunliche Beamtenwillkürlichkeiten vor¬ gefallen sein. Außer diesem jungen Kaufmann war mein Zimmer¬ genosse ein psychologisch höchst merkwürdiger Mann aus der Juden¬ stadt und ein wegen Diebstahl in Eisen wandelnder Schneider. Letz¬ terer war mehr zur Bedienung da. Der Kaufmann hatte eigenes Bett, der Judenftadtbürger nur einen eigenen Kopfpolster, ich und der Schneider lagen der ganzen Länge nach auf den Strohsäcken unter flohbesäeten Kotzendecken. Wanzen hatten wir da in die Mil¬ lionen. So traurig und qualvoll aber die bißreichen Nächte waren, so lustig ging'S bei Tage zu. Ich habe in meinem Leben nicht so viele Original-Mensche» in Einem Loch beisammen gesehen als hier, denn ich stand mitten unter etwa dreißig Bankrottirern und Schuld¬ nern, unter Juden und Christen, Krämern, Hausirern, Speculanten und herrschaftlichen Jägern. Lauter Originale, sag' ich Dir. Es ging lebhaft zu, es wurde gegessen und getrunken, gelacht und ge¬ seufzt, geplaudert und hingebrütet; prachtvolle Skandalgeschichten und zum Weinen langweilige Erlebnisse kamen zu hören; dazwischen Kar¬ tenspiel und Damenbesuch in der Vorhalle. Ueber der Thüre eines Zimmers waren vier Krebsschalen aufgehangen: das nannten die kindischen Mordkerle ihr Kaffeehaus „zu den vier Krebsen." Ein Bün- deljud' vom Land wohnte drin, der mit Kaffee und Branntwein Klein- geschäftSmachcrei im Scherz trieb. Ich habe mir all die Originale in Gedanken skizzirt und will sie einmal ganz ergötzlich im Roman zur Schau stellen. Was ich da Neues und Interessantes erlebte, davon schweige ich für dies Mal, mein lieber Al¬ ter. Man hätte mir keinen größern Gefallen thun können als mich da hineinznspcrren. Wenn es Abend werden wollte, gingen wir in unsern Park; das war der lange Gang unserer Etage, links die Bureallthüren, rechts die Fenster in den Hof. Die Fenstervertiefun¬ gen nannte man die Seitenalleen. Eines Morgens entstand plötzlich großer Lärm; es hieß, der König von Preußen werde an unsern Fenstern vorüberfahren, begleitet vom Erzherzog Stephan. Es bestä¬ tigte sich wirklich . . . und ich mußte eingesperrt sein! Der lange Schneider und noch Einige hatten sich mit Blitzesschnelle am ver¬ mauerten Fenster in die Höhe gearbeitet und sahen ihn oder vielmehr seine Pferde und seinen Reisewagen; ich aber war theils zu wenig angespornt, theils nicht langwüchsig genug, um bis zur unvermauer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/186>, abgerufen am 22.07.2024.