Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.ste . . . wir selbst!" -- Ich hatte fest beschlossen, nicht nach Prag ste . . . wir selbst!" — Ich hatte fest beschlossen, nicht nach Prag <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0168" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/269585"/> <p xml:id="ID_483" prev="#ID_482" next="#ID_484"> ste . . . wir selbst!" — Ich hatte fest beschlossen, nicht nach Prag<lb/> zurückzureisen; — wenn ich Zeit gewann, hoffte ich über die Grenze<lb/> zu entkommen. „Kam Ihnen dieser Befehl, mich nach Prag zurück¬<lb/> zuschaffen, von Wien oder Prag, Herr Commissär?" — „Von Prag."<lb/> Darin lag sehr viel Beruhigung. Ich eilte in den Gasthof zurück,<lb/> schrieb einen Brief, von dem ich später erfuhr, daß er nicht in die<lb/> die gemeinten Hände fiel; darin theilte ich mit wenigen Worten<lb/> mit, waS geschehen sei und daß ich hoffte, den und den in Leipzig zu<lb/> sein. Hierauf entwarf ich in der ersten Hitze eines galligen Un-<lb/> muths allerlei Pläne. Jetzt war mir Leipzig mein Jerusalem, nach<lb/> welchem ich gelangen mußte und sollte ich mir die Füße bis an die<lb/> Knöchel abwandern! Ich kann Dir nicht schildern, wie mir war, als<lb/> ich wieder auf die Gasse kam. Alles Gute, alles Arglose des Le¬<lb/> bens schien von mir abgeschnitten; ich kam mir vor, wie Einer, vor<lb/> dem der Sichere ängstlich wegflieht; von allen Seiten furchtsam auf¬<lb/> gegeben. Es ist ein höchst seltsames Gefühl, denken zu müssen, daß<lb/> man kein sicheres Wort mehr rede, keinen unbewachten Schritt mehr<lb/> gehe. Da lernte ich das erste Mal empfinden, was es heiße, aus<lb/> einer freiathmenden, heiteren, arglosen Welt auf einmal in die Arme<lb/> einer gewaltsamen, schleichenden, argwöhnisch-finsteren sachte niederzu¬<lb/> fallen. In diesen ungewissen Schauern ist aber unendlich viel Poe-<lb/> ste und Nichts wird nun geschäftiger, als eine unberufene Einbildung.<lb/> Auf dem Hutschirm, auf meinen Wimpern, Lippen, Schultern, Knieen<lb/> fühlte ich das unheimliche Haften lauernder Augen; es regnete lau¬<lb/> schende Ohren. Es ist ganz köstlich, das einmal mitzumachen. Meine<lb/> ganze Seele war Galle, aufbrausende Galle. Jetzt der Polizei<lb/> ein Schnippchen zu schlagen und all das eingebildete Heer von Spä¬<lb/> hern um ihren vermeintlichen Wächterpreis zu prellen — daS war<lb/> meine helfe, einzige Empfindung; nur darum war mir zu thun;<lb/> jede andere Absicht seht' ich hintan. Ich verfiel deshalb auf allerlei<lb/> unsinnige Pläne, die mir aber jetzt viel des unbezahlbarsten Spaßes<lb/> machen. Man ist in dieser abgemessenen Oberfläche unseres Alltag-<lb/> lebens so selten im Falle, in eine neue Tiefe blicken zu können und<lb/> auf eine ganz absonderliche Weise angeregt zu werde». Ich sage<lb/> Dir, mein lieber Alter, es muß wirklich ein ungewöhnliches Leben<lb/> erst recht auf den Tasten unserer Seele herumgreifen, bis wir alle Na¬<lb/> turmelodien in uns klingen hören. Von den labyrinthischen Winkel-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0168]
ste . . . wir selbst!" — Ich hatte fest beschlossen, nicht nach Prag
zurückzureisen; — wenn ich Zeit gewann, hoffte ich über die Grenze
zu entkommen. „Kam Ihnen dieser Befehl, mich nach Prag zurück¬
zuschaffen, von Wien oder Prag, Herr Commissär?" — „Von Prag."
Darin lag sehr viel Beruhigung. Ich eilte in den Gasthof zurück,
schrieb einen Brief, von dem ich später erfuhr, daß er nicht in die
die gemeinten Hände fiel; darin theilte ich mit wenigen Worten
mit, waS geschehen sei und daß ich hoffte, den und den in Leipzig zu
sein. Hierauf entwarf ich in der ersten Hitze eines galligen Un-
muths allerlei Pläne. Jetzt war mir Leipzig mein Jerusalem, nach
welchem ich gelangen mußte und sollte ich mir die Füße bis an die
Knöchel abwandern! Ich kann Dir nicht schildern, wie mir war, als
ich wieder auf die Gasse kam. Alles Gute, alles Arglose des Le¬
bens schien von mir abgeschnitten; ich kam mir vor, wie Einer, vor
dem der Sichere ängstlich wegflieht; von allen Seiten furchtsam auf¬
gegeben. Es ist ein höchst seltsames Gefühl, denken zu müssen, daß
man kein sicheres Wort mehr rede, keinen unbewachten Schritt mehr
gehe. Da lernte ich das erste Mal empfinden, was es heiße, aus
einer freiathmenden, heiteren, arglosen Welt auf einmal in die Arme
einer gewaltsamen, schleichenden, argwöhnisch-finsteren sachte niederzu¬
fallen. In diesen ungewissen Schauern ist aber unendlich viel Poe-
ste und Nichts wird nun geschäftiger, als eine unberufene Einbildung.
Auf dem Hutschirm, auf meinen Wimpern, Lippen, Schultern, Knieen
fühlte ich das unheimliche Haften lauernder Augen; es regnete lau¬
schende Ohren. Es ist ganz köstlich, das einmal mitzumachen. Meine
ganze Seele war Galle, aufbrausende Galle. Jetzt der Polizei
ein Schnippchen zu schlagen und all das eingebildete Heer von Spä¬
hern um ihren vermeintlichen Wächterpreis zu prellen — daS war
meine helfe, einzige Empfindung; nur darum war mir zu thun;
jede andere Absicht seht' ich hintan. Ich verfiel deshalb auf allerlei
unsinnige Pläne, die mir aber jetzt viel des unbezahlbarsten Spaßes
machen. Man ist in dieser abgemessenen Oberfläche unseres Alltag-
lebens so selten im Falle, in eine neue Tiefe blicken zu können und
auf eine ganz absonderliche Weise angeregt zu werde». Ich sage
Dir, mein lieber Alter, es muß wirklich ein ungewöhnliches Leben
erst recht auf den Tasten unserer Seele herumgreifen, bis wir alle Na¬
turmelodien in uns klingen hören. Von den labyrinthischen Winkel-
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