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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Volks, als Repräsentant der Allgemeinheit, noch als Gradmesser der
politischen Reife und Bildung betrachtet werden.

Die Privilegien der Aristokratie stemmen sich überall der freien
Entwickelung, der gleichen Berechtigung sämmtlicher Staatsbürger
entgegen. Ohne Aufhebung derselben kein freies Staatsbürgerthum.

Die Kreisstände haben das Recht, "zu gemeinnützigen Ein¬
richtungen und Anlagen" Ausgaben zu beschließen, die KrciScingescsse-
nen zu besteuern. Auf den Kreistagen erscheinen sämmtliche Ritter¬
gutsbesitzer deS Kreises persönlich, während jede Stadt einen Depu¬
taten sendet, sämmtliche Landgemeinden eines Kreises aber durch drei auf
Lebenszeit aus den Schulzen gewählte Abgeordnete vertreten werden.
Die Schulzen silbst werden von den Gutsherren ernannt. Die Kreis¬
stände vertreten die KreiScorpvration in allen, den ganzen Kreis be¬
treffenden Communalangelegenhciten. Indeß ist die Vertretung ganz
in den Händen der Aristokratie, die zugleich bei Einrichtungen, die
sie als "gemeinnützig" darzustellen weiß, die Kreiöeingcsessenen be¬
steuern darf. Es sind daher Anträge auf eine Reform der Kreis¬
vertretung zu stellen.

In Betreff der Communalverhältnisse des flachen Landes in den
östlichen Provinzen führen die "Privilegien der Aristokratie" zu einer
gänzlichen "Verdumpfung des Volkes." Nachdem durch das Edict
vom 9. October 1807 die Gutsunterthänigkeit aufgehoben, erwirkte
die Aristokratie daS Publicandum vom 8. April 1809, das noch heute
gesetzliche Kraft hat. Darnach ist jeder Dorfbewohner dem Guts¬
herrn als Inhaber der Civil> und Polizeigerichtsbarkeit alle Folg¬
samkeit und pünktlichen Gehorsam fernerhin zu beweisen schuldig und
deshalb auch hinfüro verbunden, sich mittelst Handschlags dazu aus¬
drücklich zu verpflichten. Er darf niemals die Ehrerbietung und den
Gehorsam aus den Augen setzen. In den vormals sächsischen Lan-
destheilen wurde durch Edict vom 18. Januar 1819 den bisherigen
"Erbunterthanen" eingeschärft, den Gutsherren auch fernerhin "Folg¬
samkeit und gesetzlichen Gehorsam zu beweisen und sich mittelst Hand¬
schlags ausdrücklich dazu zu verpflichten." Die Dorfbewohner werden
der aufgehobenen Erbunterthänigkeit ungeachtet, als "Unterthanen" der
Gutsherrn betrachtet und anerkannt. Die Gutsherrschaft bildet die
"Ortsobrigkeit". Der Gutsherr ist nicht Mitglied der Dorfgemeinde,
sondern deren "Obrigkeit und vorgesetzte Instanz." Der Gutsherr


Volks, als Repräsentant der Allgemeinheit, noch als Gradmesser der
politischen Reife und Bildung betrachtet werden.

Die Privilegien der Aristokratie stemmen sich überall der freien
Entwickelung, der gleichen Berechtigung sämmtlicher Staatsbürger
entgegen. Ohne Aufhebung derselben kein freies Staatsbürgerthum.

Die Kreisstände haben das Recht, „zu gemeinnützigen Ein¬
richtungen und Anlagen" Ausgaben zu beschließen, die KrciScingescsse-
nen zu besteuern. Auf den Kreistagen erscheinen sämmtliche Ritter¬
gutsbesitzer deS Kreises persönlich, während jede Stadt einen Depu¬
taten sendet, sämmtliche Landgemeinden eines Kreises aber durch drei auf
Lebenszeit aus den Schulzen gewählte Abgeordnete vertreten werden.
Die Schulzen silbst werden von den Gutsherren ernannt. Die Kreis¬
stände vertreten die KreiScorpvration in allen, den ganzen Kreis be¬
treffenden Communalangelegenhciten. Indeß ist die Vertretung ganz
in den Händen der Aristokratie, die zugleich bei Einrichtungen, die
sie als „gemeinnützig" darzustellen weiß, die Kreiöeingcsessenen be¬
steuern darf. Es sind daher Anträge auf eine Reform der Kreis¬
vertretung zu stellen.

In Betreff der Communalverhältnisse des flachen Landes in den
östlichen Provinzen führen die „Privilegien der Aristokratie" zu einer
gänzlichen „Verdumpfung des Volkes." Nachdem durch das Edict
vom 9. October 1807 die Gutsunterthänigkeit aufgehoben, erwirkte
die Aristokratie daS Publicandum vom 8. April 1809, das noch heute
gesetzliche Kraft hat. Darnach ist jeder Dorfbewohner dem Guts¬
herrn als Inhaber der Civil> und Polizeigerichtsbarkeit alle Folg¬
samkeit und pünktlichen Gehorsam fernerhin zu beweisen schuldig und
deshalb auch hinfüro verbunden, sich mittelst Handschlags dazu aus¬
drücklich zu verpflichten. Er darf niemals die Ehrerbietung und den
Gehorsam aus den Augen setzen. In den vormals sächsischen Lan-
destheilen wurde durch Edict vom 18. Januar 1819 den bisherigen
„Erbunterthanen" eingeschärft, den Gutsherren auch fernerhin „Folg¬
samkeit und gesetzlichen Gehorsam zu beweisen und sich mittelst Hand¬
schlags ausdrücklich dazu zu verpflichten." Die Dorfbewohner werden
der aufgehobenen Erbunterthänigkeit ungeachtet, als „Unterthanen" der
Gutsherrn betrachtet und anerkannt. Die Gutsherrschaft bildet die
„Ortsobrigkeit". Der Gutsherr ist nicht Mitglied der Dorfgemeinde,
sondern deren „Obrigkeit und vorgesetzte Instanz." Der Gutsherr


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[0161] Volks, als Repräsentant der Allgemeinheit, noch als Gradmesser der politischen Reife und Bildung betrachtet werden. Die Privilegien der Aristokratie stemmen sich überall der freien Entwickelung, der gleichen Berechtigung sämmtlicher Staatsbürger entgegen. Ohne Aufhebung derselben kein freies Staatsbürgerthum. Die Kreisstände haben das Recht, „zu gemeinnützigen Ein¬ richtungen und Anlagen" Ausgaben zu beschließen, die KrciScingescsse- nen zu besteuern. Auf den Kreistagen erscheinen sämmtliche Ritter¬ gutsbesitzer deS Kreises persönlich, während jede Stadt einen Depu¬ taten sendet, sämmtliche Landgemeinden eines Kreises aber durch drei auf Lebenszeit aus den Schulzen gewählte Abgeordnete vertreten werden. Die Schulzen silbst werden von den Gutsherren ernannt. Die Kreis¬ stände vertreten die KreiScorpvration in allen, den ganzen Kreis be¬ treffenden Communalangelegenhciten. Indeß ist die Vertretung ganz in den Händen der Aristokratie, die zugleich bei Einrichtungen, die sie als „gemeinnützig" darzustellen weiß, die Kreiöeingcsessenen be¬ steuern darf. Es sind daher Anträge auf eine Reform der Kreis¬ vertretung zu stellen. In Betreff der Communalverhältnisse des flachen Landes in den östlichen Provinzen führen die „Privilegien der Aristokratie" zu einer gänzlichen „Verdumpfung des Volkes." Nachdem durch das Edict vom 9. October 1807 die Gutsunterthänigkeit aufgehoben, erwirkte die Aristokratie daS Publicandum vom 8. April 1809, das noch heute gesetzliche Kraft hat. Darnach ist jeder Dorfbewohner dem Guts¬ herrn als Inhaber der Civil> und Polizeigerichtsbarkeit alle Folg¬ samkeit und pünktlichen Gehorsam fernerhin zu beweisen schuldig und deshalb auch hinfüro verbunden, sich mittelst Handschlags dazu aus¬ drücklich zu verpflichten. Er darf niemals die Ehrerbietung und den Gehorsam aus den Augen setzen. In den vormals sächsischen Lan- destheilen wurde durch Edict vom 18. Januar 1819 den bisherigen „Erbunterthanen" eingeschärft, den Gutsherren auch fernerhin „Folg¬ samkeit und gesetzlichen Gehorsam zu beweisen und sich mittelst Hand¬ schlags ausdrücklich dazu zu verpflichten." Die Dorfbewohner werden der aufgehobenen Erbunterthänigkeit ungeachtet, als „Unterthanen" der Gutsherrn betrachtet und anerkannt. Die Gutsherrschaft bildet die „Ortsobrigkeit". Der Gutsherr ist nicht Mitglied der Dorfgemeinde, sondern deren „Obrigkeit und vorgesetzte Instanz." Der Gutsherr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/161>, abgerufen am 22.07.2024.