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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Perleberg, Salzwedel, Anklam haben so gut eine Stimme, wie Frank¬
furt, Potsdam, Stettin. Das erinnert an die verrotteten Flecken
Englands. Die Interessen der vierzigtausend Einwohner Stettins
werden denen der sechstausend Einwohner Perlebergs gleichgestellt,
indem beide Städte durch je einen Abgeordneten vertreten werden.
Wo dreißig Rittergutsbesitzer einen Abgeordneten senden, wo dreißig-
tausend Einwohner kleiner, unbedeutender, ärmlicher, zu einer Collcc-
tivstimme vereinigter Städte einen Abgeordneten wählen, werden die
Interessen von sechzigtausend, ja von hundert und zwanzigtausend
Landbewohnern durch einen einzigen Abgeordneten vertreten, und zwar
in einer durch Wohlhabenheit ihrer Bewohner berühmten, durch Große
deS bäuerlichen Grundbesitzes ausgezeichneten Gegend, in der Mag¬
deburger Borde. Dabei wird die Wahl in Städten und Landge¬
meinden noch beschränkt durch die Bedingung eines zehnjährigen
Grundbesitzes, durch einen hohen Wahlcensus und auf den Betrieb
eines städtischen Gewerbes oder auf Landwirthschaft. Somit ist die
Intelligenz ausdrücklich ausgeschlossen. Es ist schwer zu begreifen,
warum z. B. ein Mitglied der Landgemeinden dadurch, daß es ne¬
ben der Landwirthschaft seine Intelligenz anderen Gewerben widmet,
unfähig zum Landtagsabgeordneten werden soll. Die Frage: wer
auf den preußischen Landtagen vertreten sei, wird in der deutschen
Monatsschrift sehr richtig dahin beantwortet : "Offenbar nur die
Reichen, die Habenden, die Nichts verlieren wollen, während der
Arme keine einzige Stimme für sich hat. Es wäre für den Staat
gewiß keine Gefahr dabei, wenn auf jedem Einer oder Zwei mitsä-
ßen, die materiell ganz arm, ganz besitzlos, aber geistig desto mehr
begütert sein müßten. Das wäre zwar unfehlbar eine ewige Mino-
ritätsbank; aber wenn das Votum dieser Minorität stets beigelegt
werden müßte, so würde sie, neben dem verknöcherten Reichthum, der
wohlwollenden Staatsregierung den Lebenshauch der wahren Volks¬
meinung nicht so oft fehlen lassen." Wenigstens kann eine Land¬
tagsversammlung, zum größten Theil aus Landjunkern bestehend, de¬
nen einige Gewerbtreibende und Bürgermeister kleiner und großer
Städte und wenige Bauern beigesellt sind, nicht als Organ des



*) Blicke in die Zeit vom Standpunkte eines preußischen Communalbc-
amten. Deutsche Monatsschrift, Aprilheft 134".

Perleberg, Salzwedel, Anklam haben so gut eine Stimme, wie Frank¬
furt, Potsdam, Stettin. Das erinnert an die verrotteten Flecken
Englands. Die Interessen der vierzigtausend Einwohner Stettins
werden denen der sechstausend Einwohner Perlebergs gleichgestellt,
indem beide Städte durch je einen Abgeordneten vertreten werden.
Wo dreißig Rittergutsbesitzer einen Abgeordneten senden, wo dreißig-
tausend Einwohner kleiner, unbedeutender, ärmlicher, zu einer Collcc-
tivstimme vereinigter Städte einen Abgeordneten wählen, werden die
Interessen von sechzigtausend, ja von hundert und zwanzigtausend
Landbewohnern durch einen einzigen Abgeordneten vertreten, und zwar
in einer durch Wohlhabenheit ihrer Bewohner berühmten, durch Große
deS bäuerlichen Grundbesitzes ausgezeichneten Gegend, in der Mag¬
deburger Borde. Dabei wird die Wahl in Städten und Landge¬
meinden noch beschränkt durch die Bedingung eines zehnjährigen
Grundbesitzes, durch einen hohen Wahlcensus und auf den Betrieb
eines städtischen Gewerbes oder auf Landwirthschaft. Somit ist die
Intelligenz ausdrücklich ausgeschlossen. Es ist schwer zu begreifen,
warum z. B. ein Mitglied der Landgemeinden dadurch, daß es ne¬
ben der Landwirthschaft seine Intelligenz anderen Gewerben widmet,
unfähig zum Landtagsabgeordneten werden soll. Die Frage: wer
auf den preußischen Landtagen vertreten sei, wird in der deutschen
Monatsschrift sehr richtig dahin beantwortet : „Offenbar nur die
Reichen, die Habenden, die Nichts verlieren wollen, während der
Arme keine einzige Stimme für sich hat. Es wäre für den Staat
gewiß keine Gefahr dabei, wenn auf jedem Einer oder Zwei mitsä-
ßen, die materiell ganz arm, ganz besitzlos, aber geistig desto mehr
begütert sein müßten. Das wäre zwar unfehlbar eine ewige Mino-
ritätsbank; aber wenn das Votum dieser Minorität stets beigelegt
werden müßte, so würde sie, neben dem verknöcherten Reichthum, der
wohlwollenden Staatsregierung den Lebenshauch der wahren Volks¬
meinung nicht so oft fehlen lassen." Wenigstens kann eine Land¬
tagsversammlung, zum größten Theil aus Landjunkern bestehend, de¬
nen einige Gewerbtreibende und Bürgermeister kleiner und großer
Städte und wenige Bauern beigesellt sind, nicht als Organ des



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amten. Deutsche Monatsschrift, Aprilheft 134».
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[0160] Perleberg, Salzwedel, Anklam haben so gut eine Stimme, wie Frank¬ furt, Potsdam, Stettin. Das erinnert an die verrotteten Flecken Englands. Die Interessen der vierzigtausend Einwohner Stettins werden denen der sechstausend Einwohner Perlebergs gleichgestellt, indem beide Städte durch je einen Abgeordneten vertreten werden. Wo dreißig Rittergutsbesitzer einen Abgeordneten senden, wo dreißig- tausend Einwohner kleiner, unbedeutender, ärmlicher, zu einer Collcc- tivstimme vereinigter Städte einen Abgeordneten wählen, werden die Interessen von sechzigtausend, ja von hundert und zwanzigtausend Landbewohnern durch einen einzigen Abgeordneten vertreten, und zwar in einer durch Wohlhabenheit ihrer Bewohner berühmten, durch Große deS bäuerlichen Grundbesitzes ausgezeichneten Gegend, in der Mag¬ deburger Borde. Dabei wird die Wahl in Städten und Landge¬ meinden noch beschränkt durch die Bedingung eines zehnjährigen Grundbesitzes, durch einen hohen Wahlcensus und auf den Betrieb eines städtischen Gewerbes oder auf Landwirthschaft. Somit ist die Intelligenz ausdrücklich ausgeschlossen. Es ist schwer zu begreifen, warum z. B. ein Mitglied der Landgemeinden dadurch, daß es ne¬ ben der Landwirthschaft seine Intelligenz anderen Gewerben widmet, unfähig zum Landtagsabgeordneten werden soll. Die Frage: wer auf den preußischen Landtagen vertreten sei, wird in der deutschen Monatsschrift sehr richtig dahin beantwortet : „Offenbar nur die Reichen, die Habenden, die Nichts verlieren wollen, während der Arme keine einzige Stimme für sich hat. Es wäre für den Staat gewiß keine Gefahr dabei, wenn auf jedem Einer oder Zwei mitsä- ßen, die materiell ganz arm, ganz besitzlos, aber geistig desto mehr begütert sein müßten. Das wäre zwar unfehlbar eine ewige Mino- ritätsbank; aber wenn das Votum dieser Minorität stets beigelegt werden müßte, so würde sie, neben dem verknöcherten Reichthum, der wohlwollenden Staatsregierung den Lebenshauch der wahren Volks¬ meinung nicht so oft fehlen lassen." Wenigstens kann eine Land¬ tagsversammlung, zum größten Theil aus Landjunkern bestehend, de¬ nen einige Gewerbtreibende und Bürgermeister kleiner und großer Städte und wenige Bauern beigesellt sind, nicht als Organ des *) Blicke in die Zeit vom Standpunkte eines preußischen Communalbc- amten. Deutsche Monatsschrift, Aprilheft 134».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/160>, abgerufen am 22.07.2024.