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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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immer mehr auf Realität dringt, seinen Antheil an diesen Metamor¬
phosen. Büret's "Allgemeine Geschichte der Reisen und Entdeckungen,"
deren erster Band, "die alte Welt" umfassend, vor Kurzem erschienen,
ist ein sehr achtungswerther Versuch, eine erschöpfende und wissenschaft¬
lich entwickelte Geschichte der wichtigsten Reisen zu schreiben. Auf die
Lage, den Seehandel, die überseeischen Beziehungen und Bedürfnisse
Deutschlands ist dabei mehr Rücksicht genommen, als in einem sol¬
chen Werke vor zehn oder fünfzehn Jahren geschehen wäre. Von
demselben Verfasser erscheinen binnen Kurzem (bei Teubner in Leipzig)
auch "die Reisen Marco Polo's", zum ersten Mal vollständig nach
den besten Ausgaben verdeutscht, mit ausführlichen Commentaren und
einem Nachtrag von dem berühmten Professor Neumann in München,
unserer ersten Autorität über orientalische Sprachen und Geschichten,
namentlich über China. --

-- Im neuesten Buche Dorow's: "Krieg, Literatur, Theater",
(bei Reclam j"n. in Leipzig) begegnen wir einem geheimnißvollen
alten Bekannten. Es werden da Bruchstücke aus ungedruckten, in
französischer Sprache abgefaßten Memoiren mitgetheilt, die, besonders
durch höchst interessante Urtheile über Kaiser Nikolaus, an den >>ri"<:<.>
K. in dem vielbeschrieenen Buche des Marquis de Custine erinnern.
Dieser K. ist der jüngst verstorbene russische Fürst Koslowski, bekannt
als ein geistreicher Beobachter und gefürchtet wegen seiner kühnen
Zunge. So viel scheint gewiß, daß der >"rin,:v K., welcher dem Marquis
auf dem Dampfboot während der Fahrt nach Se. Petersburg so
merkwürdige Eröffnungen über Nußland macht, keine Fiction war,
wie manche Gegner Custine's glaubten. Auch ist die Offenheit dieser
Mittheilung weder unwahrscheinlich, noch überraschend, wenn man'
den originellen Charakter des Fürsten Koslowski bedenkt.

-- In Baiern ist ein Bürger wegen eines trivialen Bonmots,
welches eine Beleidigung des Königs enthielt, zu vier Jahren Festungs¬
strafe verurtheilt worden. Ein ähnlicher Fall begab sich voriges Jahr
in Holland, wo Jemand öffentlich gefragt hatte: Was ist der Unter¬
schied zwischen der Regierung und einem Schneider? -- Dieser zieht
uns an, jene zieht uns aus. -- Bekanntlich wurde in Holland, wo
die Regierung ein ziemlich gutes Gewissen hat, der Proceß niederge¬
schlagen und der Angeklagte in Freiheit gesetzt. In Baiern scheint
keine Lust vorhanden, diese im Grunde wohlfeile Großmuth nachzu¬
ahmen ; denn Nichts läßt weniger auf eine ernstliche Gesinnung schlie¬
ßen, als ein Bonmot, das meist nur um seiner selbst willen gemacht
oder nachgesprochen wird. Das aber sind die Folgen der natürlichen
Redefreiheit. Gabe es eine Eensur, gäbe es Präventivmaßregeln für


immer mehr auf Realität dringt, seinen Antheil an diesen Metamor¬
phosen. Büret's „Allgemeine Geschichte der Reisen und Entdeckungen,"
deren erster Band, „die alte Welt" umfassend, vor Kurzem erschienen,
ist ein sehr achtungswerther Versuch, eine erschöpfende und wissenschaft¬
lich entwickelte Geschichte der wichtigsten Reisen zu schreiben. Auf die
Lage, den Seehandel, die überseeischen Beziehungen und Bedürfnisse
Deutschlands ist dabei mehr Rücksicht genommen, als in einem sol¬
chen Werke vor zehn oder fünfzehn Jahren geschehen wäre. Von
demselben Verfasser erscheinen binnen Kurzem (bei Teubner in Leipzig)
auch „die Reisen Marco Polo's", zum ersten Mal vollständig nach
den besten Ausgaben verdeutscht, mit ausführlichen Commentaren und
einem Nachtrag von dem berühmten Professor Neumann in München,
unserer ersten Autorität über orientalische Sprachen und Geschichten,
namentlich über China. —

— Im neuesten Buche Dorow's: „Krieg, Literatur, Theater",
(bei Reclam j»n. in Leipzig) begegnen wir einem geheimnißvollen
alten Bekannten. Es werden da Bruchstücke aus ungedruckten, in
französischer Sprache abgefaßten Memoiren mitgetheilt, die, besonders
durch höchst interessante Urtheile über Kaiser Nikolaus, an den >>ri»<:<.>
K. in dem vielbeschrieenen Buche des Marquis de Custine erinnern.
Dieser K. ist der jüngst verstorbene russische Fürst Koslowski, bekannt
als ein geistreicher Beobachter und gefürchtet wegen seiner kühnen
Zunge. So viel scheint gewiß, daß der >»rin,:v K., welcher dem Marquis
auf dem Dampfboot während der Fahrt nach Se. Petersburg so
merkwürdige Eröffnungen über Nußland macht, keine Fiction war,
wie manche Gegner Custine's glaubten. Auch ist die Offenheit dieser
Mittheilung weder unwahrscheinlich, noch überraschend, wenn man'
den originellen Charakter des Fürsten Koslowski bedenkt.

— In Baiern ist ein Bürger wegen eines trivialen Bonmots,
welches eine Beleidigung des Königs enthielt, zu vier Jahren Festungs¬
strafe verurtheilt worden. Ein ähnlicher Fall begab sich voriges Jahr
in Holland, wo Jemand öffentlich gefragt hatte: Was ist der Unter¬
schied zwischen der Regierung und einem Schneider? — Dieser zieht
uns an, jene zieht uns aus. — Bekanntlich wurde in Holland, wo
die Regierung ein ziemlich gutes Gewissen hat, der Proceß niederge¬
schlagen und der Angeklagte in Freiheit gesetzt. In Baiern scheint
keine Lust vorhanden, diese im Grunde wohlfeile Großmuth nachzu¬
ahmen ; denn Nichts läßt weniger auf eine ernstliche Gesinnung schlie¬
ßen, als ein Bonmot, das meist nur um seiner selbst willen gemacht
oder nachgesprochen wird. Das aber sind die Folgen der natürlichen
Redefreiheit. Gabe es eine Eensur, gäbe es Präventivmaßregeln für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/104>, abgerufen am 22.07.2024.