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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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andern Volke, wo sie heimisch geworden, so tief allegorisch aufgefaßt
und so hochpoetisch durchgeführt worden, als bei dem deutschen. Gott¬
fried von Strasburg, der Sänger derselben, ist einer der tiefsten und
gebildetsten Dichter des Mittelalters. Sein Gedicht ist für alle Dich¬
ter eine unerschöpfliche Fundgrube der Poesie. Leider hinderte der Tod
dessen Vollendung. Die Fortsetzungen von Heinrich von Friberg und
Ulrich von Türheim sind schwache Nachklänge. Gottfried bezeichnet
im Anfange seines Heldenliedes Mann und Weib, Tristan und Isolde,
als die großen Gegensätze dieser Sage, sie sind der ewige Wechsel zwi¬
schen Liebe und Leid; aber das Beständige und Unerschütterliche ist
die Treue, von ihr kommen alle Tugenden des Menschen. -- Das
deutsche Volk hat leider noch geringe Kenntniß von der Schönheit von
Gottfried's Dichtung, weil die altdeutsche Sprache der Menge unver¬
ständlich ist. Immermann ergriff den herrlichen Stoff zu seiner Bor¬
lage; leider blieb auch seine zarte Dichtung ein Bruchstück. Die Aus¬
gaben von Groote, van der Hagen und Maßmann enthalten nur den
Urtext. Das große Publicum muß es demnach Herrn Kurtz zu Dank
anrechnen, daß er an eine Uebertragung des Urtextes in's Neuhoch¬
deutsche gegangen ist, die, so viel sich auch wegen Einzelnheiten, be¬
sonders wegen Ausdrücke und Wendungen, die dem Original nicht
entsprechend sind, aussetzen läßt, im Ganzen doch von tiefem Verständ¬
niß, redlichem Fleiß und großer Sorgfalt Zeugniß ablegt. Da Kurtz's
Uebertragung für das Volk berechnet ist, so wäre es im Interesse
desselben gewesen, daß der Verfasser in einem Vorworte nicht eine an¬
deutende Ervectoration, sondern eine kurze Geschichte der Sage und
die nöthigsten Erklärungen über die tiefe Bedeutung dieser allegorischen
Dichtung Gottfried's gegeben hatte, da dem Volke die Untersuchungen
von Groote, Mone, Hagen, Maßmann und Michel nicht zugänglich
sind und das, was Gecvinus darüber gibt, wohl geistreich, aber nicht
populär geschrieben ist. Was die freie (von den Fortsetzungen Hein¬
rich's von Friberg und Ulrich's von Türheim unabhängige) Fortsetzung
der Sage von Seiten des Verfassers betrifft, die er als einen Abschluß
der Jmmermannschcn Dichtung bezeichnet, wird an^geeigneteren Orte
eine ausführliche Würdigung finden.


llr. K. H.

-- August Büret, der vor Jahren zuerst mit romantistrcndcn No¬
vellen aufgetreten war, hat sich völlig dem historisch-geographischen
Fach gewidmet. Ueberhaupt ist es als ein Zeichen der Zeit zu bemer¬
ken, daß immer mehr erzählende Talente sich vom Gebiet der Dich¬
tung auf das der Wirklichkeit flüchten und, statt Novellen und Ro¬
mane, Welt- und Specialgeschichten, statt der Reisebilder, Reisebeschrei¬
bungen :c. produciren. Allerdings geschieht dies oft mehr aus äußerem
als innerem Drang; jedenfalls aber hat der Jnstinct der Zeit, die


andern Volke, wo sie heimisch geworden, so tief allegorisch aufgefaßt
und so hochpoetisch durchgeführt worden, als bei dem deutschen. Gott¬
fried von Strasburg, der Sänger derselben, ist einer der tiefsten und
gebildetsten Dichter des Mittelalters. Sein Gedicht ist für alle Dich¬
ter eine unerschöpfliche Fundgrube der Poesie. Leider hinderte der Tod
dessen Vollendung. Die Fortsetzungen von Heinrich von Friberg und
Ulrich von Türheim sind schwache Nachklänge. Gottfried bezeichnet
im Anfange seines Heldenliedes Mann und Weib, Tristan und Isolde,
als die großen Gegensätze dieser Sage, sie sind der ewige Wechsel zwi¬
schen Liebe und Leid; aber das Beständige und Unerschütterliche ist
die Treue, von ihr kommen alle Tugenden des Menschen. — Das
deutsche Volk hat leider noch geringe Kenntniß von der Schönheit von
Gottfried's Dichtung, weil die altdeutsche Sprache der Menge unver¬
ständlich ist. Immermann ergriff den herrlichen Stoff zu seiner Bor¬
lage; leider blieb auch seine zarte Dichtung ein Bruchstück. Die Aus¬
gaben von Groote, van der Hagen und Maßmann enthalten nur den
Urtext. Das große Publicum muß es demnach Herrn Kurtz zu Dank
anrechnen, daß er an eine Uebertragung des Urtextes in's Neuhoch¬
deutsche gegangen ist, die, so viel sich auch wegen Einzelnheiten, be¬
sonders wegen Ausdrücke und Wendungen, die dem Original nicht
entsprechend sind, aussetzen läßt, im Ganzen doch von tiefem Verständ¬
niß, redlichem Fleiß und großer Sorgfalt Zeugniß ablegt. Da Kurtz's
Uebertragung für das Volk berechnet ist, so wäre es im Interesse
desselben gewesen, daß der Verfasser in einem Vorworte nicht eine an¬
deutende Ervectoration, sondern eine kurze Geschichte der Sage und
die nöthigsten Erklärungen über die tiefe Bedeutung dieser allegorischen
Dichtung Gottfried's gegeben hatte, da dem Volke die Untersuchungen
von Groote, Mone, Hagen, Maßmann und Michel nicht zugänglich
sind und das, was Gecvinus darüber gibt, wohl geistreich, aber nicht
populär geschrieben ist. Was die freie (von den Fortsetzungen Hein¬
rich's von Friberg und Ulrich's von Türheim unabhängige) Fortsetzung
der Sage von Seiten des Verfassers betrifft, die er als einen Abschluß
der Jmmermannschcn Dichtung bezeichnet, wird an^geeigneteren Orte
eine ausführliche Würdigung finden.


llr. K. H.

— August Büret, der vor Jahren zuerst mit romantistrcndcn No¬
vellen aufgetreten war, hat sich völlig dem historisch-geographischen
Fach gewidmet. Ueberhaupt ist es als ein Zeichen der Zeit zu bemer¬
ken, daß immer mehr erzählende Talente sich vom Gebiet der Dich¬
tung auf das der Wirklichkeit flüchten und, statt Novellen und Ro¬
mane, Welt- und Specialgeschichten, statt der Reisebilder, Reisebeschrei¬
bungen :c. produciren. Allerdings geschieht dies oft mehr aus äußerem
als innerem Drang; jedenfalls aber hat der Jnstinct der Zeit, die


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[0103] andern Volke, wo sie heimisch geworden, so tief allegorisch aufgefaßt und so hochpoetisch durchgeführt worden, als bei dem deutschen. Gott¬ fried von Strasburg, der Sänger derselben, ist einer der tiefsten und gebildetsten Dichter des Mittelalters. Sein Gedicht ist für alle Dich¬ ter eine unerschöpfliche Fundgrube der Poesie. Leider hinderte der Tod dessen Vollendung. Die Fortsetzungen von Heinrich von Friberg und Ulrich von Türheim sind schwache Nachklänge. Gottfried bezeichnet im Anfange seines Heldenliedes Mann und Weib, Tristan und Isolde, als die großen Gegensätze dieser Sage, sie sind der ewige Wechsel zwi¬ schen Liebe und Leid; aber das Beständige und Unerschütterliche ist die Treue, von ihr kommen alle Tugenden des Menschen. — Das deutsche Volk hat leider noch geringe Kenntniß von der Schönheit von Gottfried's Dichtung, weil die altdeutsche Sprache der Menge unver¬ ständlich ist. Immermann ergriff den herrlichen Stoff zu seiner Bor¬ lage; leider blieb auch seine zarte Dichtung ein Bruchstück. Die Aus¬ gaben von Groote, van der Hagen und Maßmann enthalten nur den Urtext. Das große Publicum muß es demnach Herrn Kurtz zu Dank anrechnen, daß er an eine Uebertragung des Urtextes in's Neuhoch¬ deutsche gegangen ist, die, so viel sich auch wegen Einzelnheiten, be¬ sonders wegen Ausdrücke und Wendungen, die dem Original nicht entsprechend sind, aussetzen läßt, im Ganzen doch von tiefem Verständ¬ niß, redlichem Fleiß und großer Sorgfalt Zeugniß ablegt. Da Kurtz's Uebertragung für das Volk berechnet ist, so wäre es im Interesse desselben gewesen, daß der Verfasser in einem Vorworte nicht eine an¬ deutende Ervectoration, sondern eine kurze Geschichte der Sage und die nöthigsten Erklärungen über die tiefe Bedeutung dieser allegorischen Dichtung Gottfried's gegeben hatte, da dem Volke die Untersuchungen von Groote, Mone, Hagen, Maßmann und Michel nicht zugänglich sind und das, was Gecvinus darüber gibt, wohl geistreich, aber nicht populär geschrieben ist. Was die freie (von den Fortsetzungen Hein¬ rich's von Friberg und Ulrich's von Türheim unabhängige) Fortsetzung der Sage von Seiten des Verfassers betrifft, die er als einen Abschluß der Jmmermannschcn Dichtung bezeichnet, wird an^geeigneteren Orte eine ausführliche Würdigung finden. llr. K. H. — August Büret, der vor Jahren zuerst mit romantistrcndcn No¬ vellen aufgetreten war, hat sich völlig dem historisch-geographischen Fach gewidmet. Ueberhaupt ist es als ein Zeichen der Zeit zu bemer¬ ken, daß immer mehr erzählende Talente sich vom Gebiet der Dich¬ tung auf das der Wirklichkeit flüchten und, statt Novellen und Ro¬ mane, Welt- und Specialgeschichten, statt der Reisebilder, Reisebeschrei¬ bungen :c. produciren. Allerdings geschieht dies oft mehr aus äußerem als innerem Drang; jedenfalls aber hat der Jnstinct der Zeit, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/103>, abgerufen am 22.07.2024.