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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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2.

Herr von Holbein über den Verfall der deutschen Schauspielkunst. -- Wiener
Reiselust. -- Die Staatseisenbahn nach Gratz. -- Contract mit Baron Sina.
-- Petrificirung der Querhölzer auf den Eisenbahnen. -- Karl Ghega. --
Verderbrheir der dienenden Classe. -- Strichbuben. -- Spionerie.

Man hatte sich ganz ungewöhnliche Resultate von der Reise des
k. k. Regierungsrathes von Holbein für die hiesigen Kunstzustande
versprochen und sieht sich nun hierin sehr bitter getauscht. Nicht
nur hat der Herr Regierungsrath auf seiner Theaterfahrt keine jun¬
gen Genies entdeckt, wie wohl Mancher erwartete, sondern auch von
den bei dieser Gelegenheit von Seite der beflissenen Dichterwelt ein¬
gehändigten Manuscripten laßt sich bis jetzt nicht die leiseste Nach¬
wirkung verspüren. Seit vier Monaten, ein beim Hofburgtheater
bisher ganz unerhörter Fall, erschien keine Novität, dagegen treiben
Elauren's Bräutigam aus Mexiko und das Hotel de Viburg ihr Un¬
wesen auf den entwürdigten Brettern dieses einst so gepriesenen Kunst¬
tempels. Die nächste Neuigkeit soll ein Drama von Otto Prechtler
sein, die Kronenwächter, denen wir nach der Lecrüre des gedruckten
Manuskripts kein günstiges Horoskop stellen können. Herr von Hol¬
bein rechtfertigt die Unfruchtbarkeit seiner Reise durch die verkümmerte
Lage der dramatischen Kunst in Deutschland überhaupt; und in der
That, wenn das Bild, welches er von den deutschen Bühnenzustän¬
den entwirft, nicht mit allzu grellen Tinten gemalt ist, so kann man
den tiefen Fall der Schauspielkunst in Deutschland nicht genug be¬
klagen. Die Schauspieler, welche dieser Sommer nach Wien geführt,
schienen dieses Urtheil leider zu bestätigen, denn mit Ausnahme von
Baison und Dessoir sind alle tief unter ihrem Ruf geblieben, der in
dem papiernen und schreibseligen Deutschland nur zu oft ein blos ge¬
machter ist. Wohl fand Herr von Holbein hie und dort ein junges,
zukunftsreiches Ideal, allein sein guter Wille scheiterte dann stets an
Nebenumständen, von welchen das Publicum keine Notiz nimmt und
nicht nehmen kann, weil dasselbe sie nicht kennt. Als Herr von Hol¬
bein in B. ein junges Mädchen engagiren wollte, so beharrte die
ganze weit verzweigte Sippschaft, die insgesammt ihr Leben der Muse
geweiht hatte, sofort auf Engagement, was wohl um so weniger an¬
ging, als die ganze, zahlreiche Familie von Vater, Mutter, Bruder,
Schwester, Schwager u. s. w. noch obendrein von Kunsteifer besessen,
doch dabei die allermittelmäßigsten Subjecte waren, die am Burg¬
theater nicht blos geduldet sein, als vielmehr eine glänzende Laufbahn
machen wollten. Ein anderes Mal fand er in K. einen jungen Schau¬
spieler, den er als zweiten Liebhaber für Wien gewinnen wollte, doch
da meldeten sich binnen vierundzwanzig Stunden so viele Gläubiger,
welche vor der Abreise des Histrionen befriedigt sein wollten, daß das


2.

Herr von Holbein über den Verfall der deutschen Schauspielkunst. — Wiener
Reiselust. — Die Staatseisenbahn nach Gratz. — Contract mit Baron Sina.
— Petrificirung der Querhölzer auf den Eisenbahnen. — Karl Ghega. —
Verderbrheir der dienenden Classe. — Strichbuben. — Spionerie.

Man hatte sich ganz ungewöhnliche Resultate von der Reise des
k. k. Regierungsrathes von Holbein für die hiesigen Kunstzustande
versprochen und sieht sich nun hierin sehr bitter getauscht. Nicht
nur hat der Herr Regierungsrath auf seiner Theaterfahrt keine jun¬
gen Genies entdeckt, wie wohl Mancher erwartete, sondern auch von
den bei dieser Gelegenheit von Seite der beflissenen Dichterwelt ein¬
gehändigten Manuscripten laßt sich bis jetzt nicht die leiseste Nach¬
wirkung verspüren. Seit vier Monaten, ein beim Hofburgtheater
bisher ganz unerhörter Fall, erschien keine Novität, dagegen treiben
Elauren's Bräutigam aus Mexiko und das Hotel de Viburg ihr Un¬
wesen auf den entwürdigten Brettern dieses einst so gepriesenen Kunst¬
tempels. Die nächste Neuigkeit soll ein Drama von Otto Prechtler
sein, die Kronenwächter, denen wir nach der Lecrüre des gedruckten
Manuskripts kein günstiges Horoskop stellen können. Herr von Hol¬
bein rechtfertigt die Unfruchtbarkeit seiner Reise durch die verkümmerte
Lage der dramatischen Kunst in Deutschland überhaupt; und in der
That, wenn das Bild, welches er von den deutschen Bühnenzustän¬
den entwirft, nicht mit allzu grellen Tinten gemalt ist, so kann man
den tiefen Fall der Schauspielkunst in Deutschland nicht genug be¬
klagen. Die Schauspieler, welche dieser Sommer nach Wien geführt,
schienen dieses Urtheil leider zu bestätigen, denn mit Ausnahme von
Baison und Dessoir sind alle tief unter ihrem Ruf geblieben, der in
dem papiernen und schreibseligen Deutschland nur zu oft ein blos ge¬
machter ist. Wohl fand Herr von Holbein hie und dort ein junges,
zukunftsreiches Ideal, allein sein guter Wille scheiterte dann stets an
Nebenumständen, von welchen das Publicum keine Notiz nimmt und
nicht nehmen kann, weil dasselbe sie nicht kennt. Als Herr von Hol¬
bein in B. ein junges Mädchen engagiren wollte, so beharrte die
ganze weit verzweigte Sippschaft, die insgesammt ihr Leben der Muse
geweiht hatte, sofort auf Engagement, was wohl um so weniger an¬
ging, als die ganze, zahlreiche Familie von Vater, Mutter, Bruder,
Schwester, Schwager u. s. w. noch obendrein von Kunsteifer besessen,
doch dabei die allermittelmäßigsten Subjecte waren, die am Burg¬
theater nicht blos geduldet sein, als vielmehr eine glänzende Laufbahn
machen wollten. Ein anderes Mal fand er in K. einen jungen Schau¬
spieler, den er als zweiten Liebhaber für Wien gewinnen wollte, doch
da meldeten sich binnen vierundzwanzig Stunden so viele Gläubiger,
welche vor der Abreise des Histrionen befriedigt sein wollten, daß das


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[0089] 2. Herr von Holbein über den Verfall der deutschen Schauspielkunst. — Wiener Reiselust. — Die Staatseisenbahn nach Gratz. — Contract mit Baron Sina. — Petrificirung der Querhölzer auf den Eisenbahnen. — Karl Ghega. — Verderbrheir der dienenden Classe. — Strichbuben. — Spionerie. Man hatte sich ganz ungewöhnliche Resultate von der Reise des k. k. Regierungsrathes von Holbein für die hiesigen Kunstzustande versprochen und sieht sich nun hierin sehr bitter getauscht. Nicht nur hat der Herr Regierungsrath auf seiner Theaterfahrt keine jun¬ gen Genies entdeckt, wie wohl Mancher erwartete, sondern auch von den bei dieser Gelegenheit von Seite der beflissenen Dichterwelt ein¬ gehändigten Manuscripten laßt sich bis jetzt nicht die leiseste Nach¬ wirkung verspüren. Seit vier Monaten, ein beim Hofburgtheater bisher ganz unerhörter Fall, erschien keine Novität, dagegen treiben Elauren's Bräutigam aus Mexiko und das Hotel de Viburg ihr Un¬ wesen auf den entwürdigten Brettern dieses einst so gepriesenen Kunst¬ tempels. Die nächste Neuigkeit soll ein Drama von Otto Prechtler sein, die Kronenwächter, denen wir nach der Lecrüre des gedruckten Manuskripts kein günstiges Horoskop stellen können. Herr von Hol¬ bein rechtfertigt die Unfruchtbarkeit seiner Reise durch die verkümmerte Lage der dramatischen Kunst in Deutschland überhaupt; und in der That, wenn das Bild, welches er von den deutschen Bühnenzustän¬ den entwirft, nicht mit allzu grellen Tinten gemalt ist, so kann man den tiefen Fall der Schauspielkunst in Deutschland nicht genug be¬ klagen. Die Schauspieler, welche dieser Sommer nach Wien geführt, schienen dieses Urtheil leider zu bestätigen, denn mit Ausnahme von Baison und Dessoir sind alle tief unter ihrem Ruf geblieben, der in dem papiernen und schreibseligen Deutschland nur zu oft ein blos ge¬ machter ist. Wohl fand Herr von Holbein hie und dort ein junges, zukunftsreiches Ideal, allein sein guter Wille scheiterte dann stets an Nebenumständen, von welchen das Publicum keine Notiz nimmt und nicht nehmen kann, weil dasselbe sie nicht kennt. Als Herr von Hol¬ bein in B. ein junges Mädchen engagiren wollte, so beharrte die ganze weit verzweigte Sippschaft, die insgesammt ihr Leben der Muse geweiht hatte, sofort auf Engagement, was wohl um so weniger an¬ ging, als die ganze, zahlreiche Familie von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Schwager u. s. w. noch obendrein von Kunsteifer besessen, doch dabei die allermittelmäßigsten Subjecte waren, die am Burg¬ theater nicht blos geduldet sein, als vielmehr eine glänzende Laufbahn machen wollten. Ein anderes Mal fand er in K. einen jungen Schau¬ spieler, den er als zweiten Liebhaber für Wien gewinnen wollte, doch da meldeten sich binnen vierundzwanzig Stunden so viele Gläubiger, welche vor der Abreise des Histrionen befriedigt sein wollten, daß das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/89>, abgerufen am 05.12.2024.