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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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wo mein Opfer sich befand; der Schweiß stand mir auf der Stirne,
aber ich blieb. -- Der Zwischenact trat ein; meine Nachbarn be¬
gannen ihre Unterhaltung wieder, man sprach abermals von dem
jungen Mädchen mit dem weißen Haar.

-- Ich wette, sagte der Eine, diesem armen Fräulein ist einst
Nachts auf einem einsamen Spaziergang ein Gespenst in den Weg
getreten. Haben Sie die Seherin von Prevorst gelesen? Glauben
Sie mir, dieser Kerner --

-- Ist ein Poet und ein -- Schwabe! erwiederte ein Ande¬
rer; es gibt keine Gespenster und keine Seherinnen; ich bin Arzt
und will Ihnen erklären, wie eS kommt, daß die Natur gewisser
Haare --

-- Ah, Sie wollen uns die Sache wissenschaftlich auseinander¬
setzen! unterbrach ihn ein Dritter.

-- Geben Sie Acht, Ihre Medizin könnte dabei den Kürzern
ziehen. Es ist unmöglich, daß der Haarwuchs Mes jungen Mäd¬
chens sich weiß färbe ohne eine außerordentliche Ursache. Sicher
hat dieses liebenswürdige Schlachtopfer eine heftige Erschütterung
erlitten.

-- Ihr Mann ist vielleicht in ihren Armen ermordet worden.

-- Oder ihr Kind entschlüpfte im Augenblicke, wo sie am Fen¬
ster mit ihm spielte, ihren Händen, stürzte hoch herab und zerschmet¬
terte sich das Köpfchen aus dem Steinpflaster.

-- Um Verzeihung, meine Herren, ich glaube, Ihren Ausle¬
gungen fehlt aller Grund. Sehen Sie nicht, daß dieses reizende Ge¬
schöpf weder Mutter, noch überhaupt eine verheirathete Frau sein
kann? Man erkennt so was auf den ersten Blick. Wie alt kann
die arme Kleine sein? sechzehn Jahre.

-- Achtzehn Jahre, rief ich, mich selbst vergessend.

-- Kennen Sie sie? fragte Jener. Ich schwieg.

-- Es ist klar, fuhr er fort, und Jedermann, der nur einige
Kenntniß von der Gewalt der Leidenschaft hat, wird mit mir der An¬
sicht sein, daß dieses junge Mädchen seine weißen Haare einzig und
allein einem heftigen Liebeskummer zu danken hat.

In der vollen Aufregung der Verzweiflung ergriff ich die Hand
des Sprechenden: Nicht weiter, mein Herr! nicht ein Wort mehr!
Ja, ich bin ein Bösewicht, ein Gewissenloser!


wo mein Opfer sich befand; der Schweiß stand mir auf der Stirne,
aber ich blieb. — Der Zwischenact trat ein; meine Nachbarn be¬
gannen ihre Unterhaltung wieder, man sprach abermals von dem
jungen Mädchen mit dem weißen Haar.

— Ich wette, sagte der Eine, diesem armen Fräulein ist einst
Nachts auf einem einsamen Spaziergang ein Gespenst in den Weg
getreten. Haben Sie die Seherin von Prevorst gelesen? Glauben
Sie mir, dieser Kerner —

— Ist ein Poet und ein — Schwabe! erwiederte ein Ande¬
rer; es gibt keine Gespenster und keine Seherinnen; ich bin Arzt
und will Ihnen erklären, wie eS kommt, daß die Natur gewisser
Haare —

— Ah, Sie wollen uns die Sache wissenschaftlich auseinander¬
setzen! unterbrach ihn ein Dritter.

— Geben Sie Acht, Ihre Medizin könnte dabei den Kürzern
ziehen. Es ist unmöglich, daß der Haarwuchs Mes jungen Mäd¬
chens sich weiß färbe ohne eine außerordentliche Ursache. Sicher
hat dieses liebenswürdige Schlachtopfer eine heftige Erschütterung
erlitten.

— Ihr Mann ist vielleicht in ihren Armen ermordet worden.

— Oder ihr Kind entschlüpfte im Augenblicke, wo sie am Fen¬
ster mit ihm spielte, ihren Händen, stürzte hoch herab und zerschmet¬
terte sich das Köpfchen aus dem Steinpflaster.

— Um Verzeihung, meine Herren, ich glaube, Ihren Ausle¬
gungen fehlt aller Grund. Sehen Sie nicht, daß dieses reizende Ge¬
schöpf weder Mutter, noch überhaupt eine verheirathete Frau sein
kann? Man erkennt so was auf den ersten Blick. Wie alt kann
die arme Kleine sein? sechzehn Jahre.

— Achtzehn Jahre, rief ich, mich selbst vergessend.

— Kennen Sie sie? fragte Jener. Ich schwieg.

— Es ist klar, fuhr er fort, und Jedermann, der nur einige
Kenntniß von der Gewalt der Leidenschaft hat, wird mit mir der An¬
sicht sein, daß dieses junge Mädchen seine weißen Haare einzig und
allein einem heftigen Liebeskummer zu danken hat.

In der vollen Aufregung der Verzweiflung ergriff ich die Hand
des Sprechenden: Nicht weiter, mein Herr! nicht ein Wort mehr!
Ja, ich bin ein Bösewicht, ein Gewissenloser!


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[0547] wo mein Opfer sich befand; der Schweiß stand mir auf der Stirne, aber ich blieb. — Der Zwischenact trat ein; meine Nachbarn be¬ gannen ihre Unterhaltung wieder, man sprach abermals von dem jungen Mädchen mit dem weißen Haar. — Ich wette, sagte der Eine, diesem armen Fräulein ist einst Nachts auf einem einsamen Spaziergang ein Gespenst in den Weg getreten. Haben Sie die Seherin von Prevorst gelesen? Glauben Sie mir, dieser Kerner — — Ist ein Poet und ein — Schwabe! erwiederte ein Ande¬ rer; es gibt keine Gespenster und keine Seherinnen; ich bin Arzt und will Ihnen erklären, wie eS kommt, daß die Natur gewisser Haare — — Ah, Sie wollen uns die Sache wissenschaftlich auseinander¬ setzen! unterbrach ihn ein Dritter. — Geben Sie Acht, Ihre Medizin könnte dabei den Kürzern ziehen. Es ist unmöglich, daß der Haarwuchs Mes jungen Mäd¬ chens sich weiß färbe ohne eine außerordentliche Ursache. Sicher hat dieses liebenswürdige Schlachtopfer eine heftige Erschütterung erlitten. — Ihr Mann ist vielleicht in ihren Armen ermordet worden. — Oder ihr Kind entschlüpfte im Augenblicke, wo sie am Fen¬ ster mit ihm spielte, ihren Händen, stürzte hoch herab und zerschmet¬ terte sich das Köpfchen aus dem Steinpflaster. — Um Verzeihung, meine Herren, ich glaube, Ihren Ausle¬ gungen fehlt aller Grund. Sehen Sie nicht, daß dieses reizende Ge¬ schöpf weder Mutter, noch überhaupt eine verheirathete Frau sein kann? Man erkennt so was auf den ersten Blick. Wie alt kann die arme Kleine sein? sechzehn Jahre. — Achtzehn Jahre, rief ich, mich selbst vergessend. — Kennen Sie sie? fragte Jener. Ich schwieg. — Es ist klar, fuhr er fort, und Jedermann, der nur einige Kenntniß von der Gewalt der Leidenschaft hat, wird mit mir der An¬ sicht sein, daß dieses junge Mädchen seine weißen Haare einzig und allein einem heftigen Liebeskummer zu danken hat. In der vollen Aufregung der Verzweiflung ergriff ich die Hand des Sprechenden: Nicht weiter, mein Herr! nicht ein Wort mehr! Ja, ich bin ein Bösewicht, ein Gewissenloser!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/547>, abgerufen am 05.12.2024.