Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Grau vor der Zeit.
Novellette.



Nach zweijähriger Abwesenheit sah ich sie zum erstenmale im
Theater wieder. War es ihre Schönheit, die Aller Augen anzog?
Die Blicke des ganzen Parterres schienen auf ihre Loge gerichtet;
ich allein wagte njcht aufzublicken. Nur allmälig faßte ich Muth;
mein Auge traf sie, aber entsetzt fuhr ich zurück. Jetzt war mir
das Aufsehen, welches ihr Eintritt erregte, erklärlich; eine Fieberkälte
durchrieselte meinen Körper, meine Knie zitterten.

-- Arme, unglückliche Henriette! sprach ich leise und meine
Zähne bissen krampfhaft meine Lippen. -- Einer meiner Nachbarn
zupfte mich am Aermel.

-- Bemerken Sie das Mädchen in der Loge dort? flüsterte er;
ist es nicht befremdend, daß ein so junges Geschöpf bereits weißes
Haar hat?

-- Sie hat so schöne schwarze Augen, sagte ein Anderer.
Jammerschade!

-- Wenn ein Romantiker unter uns wäre, äußerte ein Dritter,
diese hübsche Mißgeburt gäbe Stoff zu einer interessanten Ballade,
so ä 1-l Heine, wo man nicht weiß, ob man weinen oder lachen
soll. Junge Augen und greises Haar, Verlangen und Abgelebtheit,
ein hübsches Bild unserer Literatur! -- Ich hätte den Gecken durch¬
bohren mögen.

Endlich ging der Vorhang in die Höhe. Wer sagt mir, was
auf der Scene vorging? Ich weiß eS nicht. Die Menge lachte;
mir zog der Schmerz die Brust zusammen, ich hätte hinausstürzen
mögen, aber eine unwiderstehliche Gewalt fesselte mich an den Ort,


Grau vor der Zeit.
Novellette.



Nach zweijähriger Abwesenheit sah ich sie zum erstenmale im
Theater wieder. War es ihre Schönheit, die Aller Augen anzog?
Die Blicke des ganzen Parterres schienen auf ihre Loge gerichtet;
ich allein wagte njcht aufzublicken. Nur allmälig faßte ich Muth;
mein Auge traf sie, aber entsetzt fuhr ich zurück. Jetzt war mir
das Aufsehen, welches ihr Eintritt erregte, erklärlich; eine Fieberkälte
durchrieselte meinen Körper, meine Knie zitterten.

— Arme, unglückliche Henriette! sprach ich leise und meine
Zähne bissen krampfhaft meine Lippen. — Einer meiner Nachbarn
zupfte mich am Aermel.

— Bemerken Sie das Mädchen in der Loge dort? flüsterte er;
ist es nicht befremdend, daß ein so junges Geschöpf bereits weißes
Haar hat?

— Sie hat so schöne schwarze Augen, sagte ein Anderer.
Jammerschade!

— Wenn ein Romantiker unter uns wäre, äußerte ein Dritter,
diese hübsche Mißgeburt gäbe Stoff zu einer interessanten Ballade,
so ä 1-l Heine, wo man nicht weiß, ob man weinen oder lachen
soll. Junge Augen und greises Haar, Verlangen und Abgelebtheit,
ein hübsches Bild unserer Literatur! — Ich hätte den Gecken durch¬
bohren mögen.

Endlich ging der Vorhang in die Höhe. Wer sagt mir, was
auf der Scene vorging? Ich weiß eS nicht. Die Menge lachte;
mir zog der Schmerz die Brust zusammen, ich hätte hinausstürzen
mögen, aber eine unwiderstehliche Gewalt fesselte mich an den Ort,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0546" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181730"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Grau vor der Zeit.<lb/>
Novellette.</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1546"> Nach zweijähriger Abwesenheit sah ich sie zum erstenmale im<lb/>
Theater wieder. War es ihre Schönheit, die Aller Augen anzog?<lb/>
Die Blicke des ganzen Parterres schienen auf ihre Loge gerichtet;<lb/>
ich allein wagte njcht aufzublicken. Nur allmälig faßte ich Muth;<lb/>
mein Auge traf sie, aber entsetzt fuhr ich zurück. Jetzt war mir<lb/>
das Aufsehen, welches ihr Eintritt erregte, erklärlich; eine Fieberkälte<lb/>
durchrieselte meinen Körper, meine Knie zitterten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1547"> &#x2014; Arme, unglückliche Henriette! sprach ich leise und meine<lb/>
Zähne bissen krampfhaft meine Lippen. &#x2014; Einer meiner Nachbarn<lb/>
zupfte mich am Aermel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1548"> &#x2014; Bemerken Sie das Mädchen in der Loge dort? flüsterte er;<lb/>
ist es nicht befremdend, daß ein so junges Geschöpf bereits weißes<lb/>
Haar hat?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1549"> &#x2014; Sie hat so schöne schwarze Augen, sagte ein Anderer.<lb/>
Jammerschade!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1550"> &#x2014; Wenn ein Romantiker unter uns wäre, äußerte ein Dritter,<lb/>
diese hübsche Mißgeburt gäbe Stoff zu einer interessanten Ballade,<lb/>
so ä 1-l Heine, wo man nicht weiß, ob man weinen oder lachen<lb/>
soll. Junge Augen und greises Haar, Verlangen und Abgelebtheit,<lb/>
ein hübsches Bild unserer Literatur! &#x2014; Ich hätte den Gecken durch¬<lb/>
bohren mögen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1551" next="#ID_1552"> Endlich ging der Vorhang in die Höhe. Wer sagt mir, was<lb/>
auf der Scene vorging? Ich weiß eS nicht. Die Menge lachte;<lb/>
mir zog der Schmerz die Brust zusammen, ich hätte hinausstürzen<lb/>
mögen, aber eine unwiderstehliche Gewalt fesselte mich an den Ort,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0546] Grau vor der Zeit. Novellette. Nach zweijähriger Abwesenheit sah ich sie zum erstenmale im Theater wieder. War es ihre Schönheit, die Aller Augen anzog? Die Blicke des ganzen Parterres schienen auf ihre Loge gerichtet; ich allein wagte njcht aufzublicken. Nur allmälig faßte ich Muth; mein Auge traf sie, aber entsetzt fuhr ich zurück. Jetzt war mir das Aufsehen, welches ihr Eintritt erregte, erklärlich; eine Fieberkälte durchrieselte meinen Körper, meine Knie zitterten. — Arme, unglückliche Henriette! sprach ich leise und meine Zähne bissen krampfhaft meine Lippen. — Einer meiner Nachbarn zupfte mich am Aermel. — Bemerken Sie das Mädchen in der Loge dort? flüsterte er; ist es nicht befremdend, daß ein so junges Geschöpf bereits weißes Haar hat? — Sie hat so schöne schwarze Augen, sagte ein Anderer. Jammerschade! — Wenn ein Romantiker unter uns wäre, äußerte ein Dritter, diese hübsche Mißgeburt gäbe Stoff zu einer interessanten Ballade, so ä 1-l Heine, wo man nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll. Junge Augen und greises Haar, Verlangen und Abgelebtheit, ein hübsches Bild unserer Literatur! — Ich hätte den Gecken durch¬ bohren mögen. Endlich ging der Vorhang in die Höhe. Wer sagt mir, was auf der Scene vorging? Ich weiß eS nicht. Die Menge lachte; mir zog der Schmerz die Brust zusammen, ich hätte hinausstürzen mögen, aber eine unwiderstehliche Gewalt fesselte mich an den Ort,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/546
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/546>, abgerufen am 05.12.2024.