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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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gen und sie sich nicht wollen nehmen lassen, sei überdem zu bestrafen,
wenn des Klägers Sohn solches beschwören würde. Landsassen:
"Weil er mit der Barte Nichts gehauen, bliebe es bei der in der
Gerichtsordnung gesetzten Strafe." vecretum der Beamten: "DaS
von Richter, Geschwornen und Landsassen gegebene Erkenntniß wird
confirmirt." Endlich gesteht Beklagter die Widersetzlichkeit und daß
er dem Sohn des Klägers gesagt: "Wenn Du mich als einen alten
Mann die Barte nehmen willst, so schlage ich Dich, weil Du mich
dutzest, damit an den Hals." Richter und Geschworene "sol¬
ches zum Erkenntniß ausgesetzt, erkennen, weil er gutwillig bekannt
und ein armer Mann sei, könne es wohl bei dem einen Thaler
Strafe bleiben." Die Land fassen "erkennen, weil es nicht zur
Thätlichkeit gekommen, wäre Beklagter mit Strafe zu verschonen."
Decret der Beamten: "In Ansehung gütlichen Geständnisses und
seiner Armuth, und weil er sich nicht thätlich vergriffen, ist Beklag¬
ten die Strafe erlassen, doch muß er dem Holzvogt das Pfandgeld
mit drei guten Groschen bezahlen." Charakteristisch ist, daß der arme
alte Mann den Sohn des Holzvogts, den der Beamtenkitzel sticht,
mit der Barte an den Hals schlagen will, weil er ihn "büezet." Sich
von einem jungen Menschen dutzen zu lassen, war dem alten Mann
zu ehrenlrcinkend. Der Schluß dieser Gerichtsprotokolle von 1716
lautet: "Der Gerichtstag ist Gottlob vor dieses Jahr geendigt. Gott
gebe Gnade und weitere Gesundheit, Glück zur Aufnahme der sämmt¬
lichen Unterthanen und Gehorsam gegen ihre Oberen, Ein¬
stellung des Naufens, Schlagens und insonderheit des schrecklichen
Saufens."

Gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts verschwindet das
alte Verfahren bei diesem Landgericht allmälig mehr und mehr, ohne
daß sich Einwirkung eines gesetzgebenden Willens nachweisen ließ.
Das Volk war allmälig rechtsunkundig und rechtsunmündig gewor¬
den, nachdem die Dorf- und Landesherren die gesetzgebende Gewalt
der Gemeinden sich angeeignet, nachdem daS Rechtsprecher Sache ei¬
ner Beamtenkaste geworden. Das uralte Landgericht, das von Rich-
er, Schoppen, Geschwornen und Landsassen gehegt wurde, verwan¬
delte sich in ein gewöhnliches adeliges Patrimonialgericht.

Ebenso ging auch ein anderes altes Volksgericht der Altmark,
der Seehäuser Bodding und Lodding um 1730 allmälig ein, ohne


gen und sie sich nicht wollen nehmen lassen, sei überdem zu bestrafen,
wenn des Klägers Sohn solches beschwören würde. Landsassen:
„Weil er mit der Barte Nichts gehauen, bliebe es bei der in der
Gerichtsordnung gesetzten Strafe." vecretum der Beamten: „DaS
von Richter, Geschwornen und Landsassen gegebene Erkenntniß wird
confirmirt." Endlich gesteht Beklagter die Widersetzlichkeit und daß
er dem Sohn des Klägers gesagt: „Wenn Du mich als einen alten
Mann die Barte nehmen willst, so schlage ich Dich, weil Du mich
dutzest, damit an den Hals." Richter und Geschworene „sol¬
ches zum Erkenntniß ausgesetzt, erkennen, weil er gutwillig bekannt
und ein armer Mann sei, könne es wohl bei dem einen Thaler
Strafe bleiben." Die Land fassen „erkennen, weil es nicht zur
Thätlichkeit gekommen, wäre Beklagter mit Strafe zu verschonen."
Decret der Beamten: „In Ansehung gütlichen Geständnisses und
seiner Armuth, und weil er sich nicht thätlich vergriffen, ist Beklag¬
ten die Strafe erlassen, doch muß er dem Holzvogt das Pfandgeld
mit drei guten Groschen bezahlen." Charakteristisch ist, daß der arme
alte Mann den Sohn des Holzvogts, den der Beamtenkitzel sticht,
mit der Barte an den Hals schlagen will, weil er ihn „büezet." Sich
von einem jungen Menschen dutzen zu lassen, war dem alten Mann
zu ehrenlrcinkend. Der Schluß dieser Gerichtsprotokolle von 1716
lautet: „Der Gerichtstag ist Gottlob vor dieses Jahr geendigt. Gott
gebe Gnade und weitere Gesundheit, Glück zur Aufnahme der sämmt¬
lichen Unterthanen und Gehorsam gegen ihre Oberen, Ein¬
stellung des Naufens, Schlagens und insonderheit des schrecklichen
Saufens."

Gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts verschwindet das
alte Verfahren bei diesem Landgericht allmälig mehr und mehr, ohne
daß sich Einwirkung eines gesetzgebenden Willens nachweisen ließ.
Das Volk war allmälig rechtsunkundig und rechtsunmündig gewor¬
den, nachdem die Dorf- und Landesherren die gesetzgebende Gewalt
der Gemeinden sich angeeignet, nachdem daS Rechtsprecher Sache ei¬
ner Beamtenkaste geworden. Das uralte Landgericht, das von Rich-
er, Schoppen, Geschwornen und Landsassen gehegt wurde, verwan¬
delte sich in ein gewöhnliches adeliges Patrimonialgericht.

Ebenso ging auch ein anderes altes Volksgericht der Altmark,
der Seehäuser Bodding und Lodding um 1730 allmälig ein, ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/542>, abgerufen am 28.07.2024.