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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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also immerhin die Ansichten sein mögen, die sich mit dem ganzen
Stolze der Unbedingtheit einander entgegentreten, so haben sie doch
das Gemeinsame, daß es eben nur -- Ansichten sind. Es gilt aber
bekanntlich in der Politik das kalt accompli, die unmittelbar leben¬
dige Handlung, die Geistesgegenwart, das rechtzeitige Erfassen des
Augenblicks. Und dieser Augenblick will dem Leben abgelauscht sein,
denn die Theorie weiß von ihm Nichts. Außer allem Verhältniß
zur Zeit, schließt sie vielmehr den Wechsel der Dinge von sich aus
und läßt in jedem entscheidenden Momente rathlos, die bei ihr nur
sich Raths zu erholen wissen. Gleichwohl hat die Zähigkeit, jene
vis iuertiav der Geister, die von einer vorgesetzten Meinung nicht
abgehen will, für Entschiedenheit oder gar jene peinlich starre Conse-
quenzmacherei, welche in der widerstandslosen Sphäre der Idee ihre
schnurgrader Linien zieht, für Charakterfestigkeit gegolten. So weit
haben wir tief denkerischen Deutschen die Verwirrung in den Be¬
griffen getrieben! So sehr haben wir den Sinn und das Verständ¬
niß des Lebens verloren! --

Die Indifferenz des Gedankens gegen die Zeitinteressen kann
sich nicht klarer aussprechen, als wenn die Schule die Beispiele der
Vergangenheit für die Gegenwart geltend macht. Durch die Ge¬
schichte meinen sich die Männer des loyalen wie des illoyalen Fort¬
schritts gerechtfertigt zu haben, wenn sie nachweisen, daß ihrer Theo¬
rie gemäße Bewegungen der Völker zu den verschiedensten Zeiten
Statt gefunden. So kann aber nur die abstrakteste Oberflächlichkeit
die Geschichte betrachten. Statt einzusehen, daß solche Bewegungen
für nichts Weiteres zeugen, denn für ein Bedürfniß dieser damaligen
Zeiten und daß dies gerade der Unterschied der verschiedenen Epo¬
chen, daß sie je andere Bedürfnisse und Interessen haben, wird in
das Leben dieselbe langweilige RePetition verlegt, welche dem teuto-
logischen Gedanken eigenthümlich. Nur die Gegenwart kann die
Gegenwart lehren, d. h. nur die gegenwärtigen Zustände und Ver¬
hältnisse die Art und Weise eines zeitgemäßen Thuns bedingen. Und
davon gibt denn auch die Geschichte in jeder ihrer Phasen Zeugniß.
Sie lehrt nur dies, wie Börne ganz richtig bemerkt hat, daß in die¬
ser Hinsicht aus ihr Nichts zu lernen sei. Indem sie die verschiede¬
nen "Entwicklungsstufen der Völker in ihrer Aufeinanderfolge
darstellt, setzt sie die Unterschiede gegen einander und wehrt alles


also immerhin die Ansichten sein mögen, die sich mit dem ganzen
Stolze der Unbedingtheit einander entgegentreten, so haben sie doch
das Gemeinsame, daß es eben nur — Ansichten sind. Es gilt aber
bekanntlich in der Politik das kalt accompli, die unmittelbar leben¬
dige Handlung, die Geistesgegenwart, das rechtzeitige Erfassen des
Augenblicks. Und dieser Augenblick will dem Leben abgelauscht sein,
denn die Theorie weiß von ihm Nichts. Außer allem Verhältniß
zur Zeit, schließt sie vielmehr den Wechsel der Dinge von sich aus
und läßt in jedem entscheidenden Momente rathlos, die bei ihr nur
sich Raths zu erholen wissen. Gleichwohl hat die Zähigkeit, jene
vis iuertiav der Geister, die von einer vorgesetzten Meinung nicht
abgehen will, für Entschiedenheit oder gar jene peinlich starre Conse-
quenzmacherei, welche in der widerstandslosen Sphäre der Idee ihre
schnurgrader Linien zieht, für Charakterfestigkeit gegolten. So weit
haben wir tief denkerischen Deutschen die Verwirrung in den Be¬
griffen getrieben! So sehr haben wir den Sinn und das Verständ¬
niß des Lebens verloren! —

Die Indifferenz des Gedankens gegen die Zeitinteressen kann
sich nicht klarer aussprechen, als wenn die Schule die Beispiele der
Vergangenheit für die Gegenwart geltend macht. Durch die Ge¬
schichte meinen sich die Männer des loyalen wie des illoyalen Fort¬
schritts gerechtfertigt zu haben, wenn sie nachweisen, daß ihrer Theo¬
rie gemäße Bewegungen der Völker zu den verschiedensten Zeiten
Statt gefunden. So kann aber nur die abstrakteste Oberflächlichkeit
die Geschichte betrachten. Statt einzusehen, daß solche Bewegungen
für nichts Weiteres zeugen, denn für ein Bedürfniß dieser damaligen
Zeiten und daß dies gerade der Unterschied der verschiedenen Epo¬
chen, daß sie je andere Bedürfnisse und Interessen haben, wird in
das Leben dieselbe langweilige RePetition verlegt, welche dem teuto-
logischen Gedanken eigenthümlich. Nur die Gegenwart kann die
Gegenwart lehren, d. h. nur die gegenwärtigen Zustände und Ver¬
hältnisse die Art und Weise eines zeitgemäßen Thuns bedingen. Und
davon gibt denn auch die Geschichte in jeder ihrer Phasen Zeugniß.
Sie lehrt nur dies, wie Börne ganz richtig bemerkt hat, daß in die¬
ser Hinsicht aus ihr Nichts zu lernen sei. Indem sie die verschiede¬
nen "Entwicklungsstufen der Völker in ihrer Aufeinanderfolge
darstellt, setzt sie die Unterschiede gegen einander und wehrt alles


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/417>, abgerufen am 27.07.2024.