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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Irdischen" rief er den Seinen zu. Der Körper erschien seinem durch¬
schauenden Blicke nur als ein Sinnbild des Höheren und der Ver¬
geistigung bedürftig. Mit riesiger Kraft überwältigte er ihn und hob
sich über das Einzelne empor zum Allgemeinen, und so steigerte
er seine Gedanken stets zu dem, was daS Schwerere ist, zu der
Gattung, und dachte eher als an sein Volk an die gesammte Menschheit,
die ihm das höchste und erhabenste Bild war. Und nur insofern
galt ihm der Mensch, als er ihre Idee in sich ausbildete und nur
dadurch bekam er Werth, daß er nach dem Idealen rang. Schön
war in Schiller'S Augen nur, was die Schranken des Wirklichen
überstieg. Kann man daher den vollkommenen Realisten, wie Goethe,
einem Kreise vergleichen, dessen Anfang und Ende sich harmonisch
zusammenfügen, so erscheint Schiller wie die sich weiter erstreckende
Parabel, die wohl den Ansatz zum Kreise nimmt, aber unbeschlossen
im endlosen Raume der Ewigkeit fortläuft. Und grade dieses Höher¬
streben hauchte jene seltsam erregende, elektrisch zündende Kraft in
die Schillersche Poesie.

Noch gährte Manches in Schiller's Geiste, da trat Kant ihm
näher und führte ihn zur Vollendung. Wie mit einem Zauberstabe
berührte er ihn und die verschlossenen Schätze, die in ihm ruhten, tha¬
ten sich auf und strahlten im hellsten Glänze. Da war er für im¬
mer befreit von den Regeln und Formeln, die der Verstand der Ver¬
ständigen lehrt, den kalten, starren, todten. Mit ruhiger Klarheit er¬
wog er die Gesetze, welche die Natur selbst in den Busen des Men¬
schen gedrückt hat. Immer zum Ganzen und Einigen strebend, trennte
er das Vermählte nicht, zerriß die Seele nicht in Vermögen und
Kräfte, schied nicht Vernunft und 'Gefühl, stellte den Menschen nicht
der Natur feindlich entgegen, sondern suchte ihre Harmonie. Einer
und derselbe, so will es unser Erklärer der Natur, sei der Mensch,
in allen Wandlungen der Geschicke wie in seiner geringsten Aeuße¬
rung, im zartesten Laute sich ewig gleich. In der tiefsten Lebens-
empfindung ruhte für ihn das Wahre und das Schone. Hand und
Mund war heilig, bis das Gefühl entweiht und die Brust entadelt
war. Denn es verwirrt den Sinn der Sturm der Leidenschaft-und
die wtrbelnde Fluth der Cultur. "Wohl Dir", rief er begeistert, "wenn
Du geh'se auf der Spur der Natur".-"Weh Dri, Betroguer, wenn


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Irdischen" rief er den Seinen zu. Der Körper erschien seinem durch¬
schauenden Blicke nur als ein Sinnbild des Höheren und der Ver¬
geistigung bedürftig. Mit riesiger Kraft überwältigte er ihn und hob
sich über das Einzelne empor zum Allgemeinen, und so steigerte
er seine Gedanken stets zu dem, was daS Schwerere ist, zu der
Gattung, und dachte eher als an sein Volk an die gesammte Menschheit,
die ihm das höchste und erhabenste Bild war. Und nur insofern
galt ihm der Mensch, als er ihre Idee in sich ausbildete und nur
dadurch bekam er Werth, daß er nach dem Idealen rang. Schön
war in Schiller'S Augen nur, was die Schranken des Wirklichen
überstieg. Kann man daher den vollkommenen Realisten, wie Goethe,
einem Kreise vergleichen, dessen Anfang und Ende sich harmonisch
zusammenfügen, so erscheint Schiller wie die sich weiter erstreckende
Parabel, die wohl den Ansatz zum Kreise nimmt, aber unbeschlossen
im endlosen Raume der Ewigkeit fortläuft. Und grade dieses Höher¬
streben hauchte jene seltsam erregende, elektrisch zündende Kraft in
die Schillersche Poesie.

Noch gährte Manches in Schiller's Geiste, da trat Kant ihm
näher und führte ihn zur Vollendung. Wie mit einem Zauberstabe
berührte er ihn und die verschlossenen Schätze, die in ihm ruhten, tha¬
ten sich auf und strahlten im hellsten Glänze. Da war er für im¬
mer befreit von den Regeln und Formeln, die der Verstand der Ver¬
ständigen lehrt, den kalten, starren, todten. Mit ruhiger Klarheit er¬
wog er die Gesetze, welche die Natur selbst in den Busen des Men¬
schen gedrückt hat. Immer zum Ganzen und Einigen strebend, trennte
er das Vermählte nicht, zerriß die Seele nicht in Vermögen und
Kräfte, schied nicht Vernunft und 'Gefühl, stellte den Menschen nicht
der Natur feindlich entgegen, sondern suchte ihre Harmonie. Einer
und derselbe, so will es unser Erklärer der Natur, sei der Mensch,
in allen Wandlungen der Geschicke wie in seiner geringsten Aeuße¬
rung, im zartesten Laute sich ewig gleich. In der tiefsten Lebens-
empfindung ruhte für ihn das Wahre und das Schone. Hand und
Mund war heilig, bis das Gefühl entweiht und die Brust entadelt
war. Denn es verwirrt den Sinn der Sturm der Leidenschaft-und
die wtrbelnde Fluth der Cultur. „Wohl Dir", rief er begeistert, „wenn
Du geh'se auf der Spur der Natur".-„Weh Dri, Betroguer, wenn


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[0391] Irdischen" rief er den Seinen zu. Der Körper erschien seinem durch¬ schauenden Blicke nur als ein Sinnbild des Höheren und der Ver¬ geistigung bedürftig. Mit riesiger Kraft überwältigte er ihn und hob sich über das Einzelne empor zum Allgemeinen, und so steigerte er seine Gedanken stets zu dem, was daS Schwerere ist, zu der Gattung, und dachte eher als an sein Volk an die gesammte Menschheit, die ihm das höchste und erhabenste Bild war. Und nur insofern galt ihm der Mensch, als er ihre Idee in sich ausbildete und nur dadurch bekam er Werth, daß er nach dem Idealen rang. Schön war in Schiller'S Augen nur, was die Schranken des Wirklichen überstieg. Kann man daher den vollkommenen Realisten, wie Goethe, einem Kreise vergleichen, dessen Anfang und Ende sich harmonisch zusammenfügen, so erscheint Schiller wie die sich weiter erstreckende Parabel, die wohl den Ansatz zum Kreise nimmt, aber unbeschlossen im endlosen Raume der Ewigkeit fortläuft. Und grade dieses Höher¬ streben hauchte jene seltsam erregende, elektrisch zündende Kraft in die Schillersche Poesie. Noch gährte Manches in Schiller's Geiste, da trat Kant ihm näher und führte ihn zur Vollendung. Wie mit einem Zauberstabe berührte er ihn und die verschlossenen Schätze, die in ihm ruhten, tha¬ ten sich auf und strahlten im hellsten Glänze. Da war er für im¬ mer befreit von den Regeln und Formeln, die der Verstand der Ver¬ ständigen lehrt, den kalten, starren, todten. Mit ruhiger Klarheit er¬ wog er die Gesetze, welche die Natur selbst in den Busen des Men¬ schen gedrückt hat. Immer zum Ganzen und Einigen strebend, trennte er das Vermählte nicht, zerriß die Seele nicht in Vermögen und Kräfte, schied nicht Vernunft und 'Gefühl, stellte den Menschen nicht der Natur feindlich entgegen, sondern suchte ihre Harmonie. Einer und derselbe, so will es unser Erklärer der Natur, sei der Mensch, in allen Wandlungen der Geschicke wie in seiner geringsten Aeuße¬ rung, im zartesten Laute sich ewig gleich. In der tiefsten Lebens- empfindung ruhte für ihn das Wahre und das Schone. Hand und Mund war heilig, bis das Gefühl entweiht und die Brust entadelt war. Denn es verwirrt den Sinn der Sturm der Leidenschaft-und die wtrbelnde Fluth der Cultur. „Wohl Dir", rief er begeistert, „wenn Du geh'se auf der Spur der Natur".-„Weh Dri, Betroguer, wenn 49 -i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/391>, abgerufen am 01.09.2024.