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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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den. Im Weltgeist ist die Zeit als Nichtzeit gesetzt; wie vor Gott,
sind vor ihm "tausend Jahre wie ein Tag" und umgekehrt. --




IV.
Der Staat.

Von einem Menschen, der grundsatzlos in den Tag hineinlebt,
nimmt es wenig Wunder, wenn er heute in denselben Fehler verfällt,
den er gestern getadelt. Ein Anderes ist es mit dem Philosophen, der
Selbsterkenntniß zur Aufgabe seines Lebens gemacht hat. Ist aber
gar das System seiner Weltanschauung selber der fortlaufende Wi¬
derspruch des Sollens und deö Seins, so ist der Contrast bis zur
Hohe der Komik gediehen. Und dies ist der Fall der Speculation.
Hegel hat die ganz richtige Ansicht, daß eine Verfassung nicht ge¬
macht oder erkünstelt werden dürfe, zu wiederholten Malen ausge¬
sprochen und die Constitutionsverfertiger seiner Zeit die ganze Schärfe
seines Spottes fühlen lassen, -- nichts desto weniger ist er selber
der Führer ihres Neigenö. Jene jungen Männer, die damals nicht
anstanden, sogar fremde Politiker um eine Verfassung für Deutsch¬
land anzugehen, handelten bei dem Allen aus einem unmittelbaren,
lebendigen Bedürfnisse ihres Herzens, das sie nur schwach genug
waren, mit dem der ganzen Nation zu identificiren, aber der Philo¬
soph weiß Nichts von solchen Bedürfnissen. Er geht auch nicht den
fremden Staatsmann an, der immer doch Mensch genug war, die
Herzensinteressen, auch der fremden Nation, zu theilen, -- sein Ora¬
kel ist ein bei weitem entlegeneres. Die in der einsamen Studirstube
concipirten Gebilde eines dem Leben entrückten Denkers sind ihm der
Staatsweisheit Normen, und seiner Eitelkeit diese einsame Studir¬
stube der Erdkreis. Der Begriff ist ihm der letzte Grund, der den
Staat aus sich empor und an das Licht getrieben, die Idee, die
"in ihm sich Weltlichkeit gegeben". Weil nämlich die Philosophie
Alles als ein Gedachtes ausspricht, meint sie das Gedachte für Alles
ausgeben zu dürfen; -- aber sie verräth in diesem Trugschlüsse die
Schwäche jenes Schauspielers, der seiner Gefallsucht den Reichthum
der Scene zum Opfer bringt, indem er die Aufmerksamkeit auf seine


den. Im Weltgeist ist die Zeit als Nichtzeit gesetzt; wie vor Gott,
sind vor ihm „tausend Jahre wie ein Tag" und umgekehrt. —




IV.
Der Staat.

Von einem Menschen, der grundsatzlos in den Tag hineinlebt,
nimmt es wenig Wunder, wenn er heute in denselben Fehler verfällt,
den er gestern getadelt. Ein Anderes ist es mit dem Philosophen, der
Selbsterkenntniß zur Aufgabe seines Lebens gemacht hat. Ist aber
gar das System seiner Weltanschauung selber der fortlaufende Wi¬
derspruch des Sollens und deö Seins, so ist der Contrast bis zur
Hohe der Komik gediehen. Und dies ist der Fall der Speculation.
Hegel hat die ganz richtige Ansicht, daß eine Verfassung nicht ge¬
macht oder erkünstelt werden dürfe, zu wiederholten Malen ausge¬
sprochen und die Constitutionsverfertiger seiner Zeit die ganze Schärfe
seines Spottes fühlen lassen, — nichts desto weniger ist er selber
der Führer ihres Neigenö. Jene jungen Männer, die damals nicht
anstanden, sogar fremde Politiker um eine Verfassung für Deutsch¬
land anzugehen, handelten bei dem Allen aus einem unmittelbaren,
lebendigen Bedürfnisse ihres Herzens, das sie nur schwach genug
waren, mit dem der ganzen Nation zu identificiren, aber der Philo¬
soph weiß Nichts von solchen Bedürfnissen. Er geht auch nicht den
fremden Staatsmann an, der immer doch Mensch genug war, die
Herzensinteressen, auch der fremden Nation, zu theilen, — sein Ora¬
kel ist ein bei weitem entlegeneres. Die in der einsamen Studirstube
concipirten Gebilde eines dem Leben entrückten Denkers sind ihm der
Staatsweisheit Normen, und seiner Eitelkeit diese einsame Studir¬
stube der Erdkreis. Der Begriff ist ihm der letzte Grund, der den
Staat aus sich empor und an das Licht getrieben, die Idee, die
„in ihm sich Weltlichkeit gegeben". Weil nämlich die Philosophie
Alles als ein Gedachtes ausspricht, meint sie das Gedachte für Alles
ausgeben zu dürfen; — aber sie verräth in diesem Trugschlüsse die
Schwäche jenes Schauspielers, der seiner Gefallsucht den Reichthum
der Scene zum Opfer bringt, indem er die Aufmerksamkeit auf seine


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[0305] den. Im Weltgeist ist die Zeit als Nichtzeit gesetzt; wie vor Gott, sind vor ihm „tausend Jahre wie ein Tag" und umgekehrt. — IV. Der Staat. Von einem Menschen, der grundsatzlos in den Tag hineinlebt, nimmt es wenig Wunder, wenn er heute in denselben Fehler verfällt, den er gestern getadelt. Ein Anderes ist es mit dem Philosophen, der Selbsterkenntniß zur Aufgabe seines Lebens gemacht hat. Ist aber gar das System seiner Weltanschauung selber der fortlaufende Wi¬ derspruch des Sollens und deö Seins, so ist der Contrast bis zur Hohe der Komik gediehen. Und dies ist der Fall der Speculation. Hegel hat die ganz richtige Ansicht, daß eine Verfassung nicht ge¬ macht oder erkünstelt werden dürfe, zu wiederholten Malen ausge¬ sprochen und die Constitutionsverfertiger seiner Zeit die ganze Schärfe seines Spottes fühlen lassen, — nichts desto weniger ist er selber der Führer ihres Neigenö. Jene jungen Männer, die damals nicht anstanden, sogar fremde Politiker um eine Verfassung für Deutsch¬ land anzugehen, handelten bei dem Allen aus einem unmittelbaren, lebendigen Bedürfnisse ihres Herzens, das sie nur schwach genug waren, mit dem der ganzen Nation zu identificiren, aber der Philo¬ soph weiß Nichts von solchen Bedürfnissen. Er geht auch nicht den fremden Staatsmann an, der immer doch Mensch genug war, die Herzensinteressen, auch der fremden Nation, zu theilen, — sein Ora¬ kel ist ein bei weitem entlegeneres. Die in der einsamen Studirstube concipirten Gebilde eines dem Leben entrückten Denkers sind ihm der Staatsweisheit Normen, und seiner Eitelkeit diese einsame Studir¬ stube der Erdkreis. Der Begriff ist ihm der letzte Grund, der den Staat aus sich empor und an das Licht getrieben, die Idee, die „in ihm sich Weltlichkeit gegeben". Weil nämlich die Philosophie Alles als ein Gedachtes ausspricht, meint sie das Gedachte für Alles ausgeben zu dürfen; — aber sie verräth in diesem Trugschlüsse die Schwäche jenes Schauspielers, der seiner Gefallsucht den Reichthum der Scene zum Opfer bringt, indem er die Aufmerksamkeit auf seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/305>, abgerufen am 01.09.2024.