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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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obschon es die bereits vorhandene Begriffsverwirrung über Zweck
und Wesen der Poesie nur steigern kann, da sich die Verfasser solcher
Stücke daran gewöhnen, als Dichter die Huldigungen in Empfang
zu nehmen, welche einzig und allein der Tendenz dargebracht wer¬
den. Was von den Meisten als ein Fortschritt der Gesinnung be¬
trachtet wird, ist auf der anderen Seite ein beklagenswerther Rück¬
schritt der Poesie zu nennen; und wenn ich die Stücke des von uns
Jüngeren viel .angefeindeten Raupach, dem man allerdings das frü¬
her von ihm besessene Bühnenmonopol, wie die leichtsinnige Ver¬
schwendung seines Talentes zum Vorwurf machen muß, mit der
Mehrzahl der häufig so anmaßlich ausgetretenen Stücke neuerer Zeit
vergleiche, so muß ich bekennen, daß Raupach wenigstens ein größe¬
res Capital ursprünglichen dramatischen Talentes besaß, von dem er
bekanntlich nur zu reichliche Zinsen zu ziehen wußte. Seine aus
leicht kenntlichen Gründen in endlos lange Fäden ausgesponnenen
Hohenstauftntragödien stehen im Grunde dem Ideal der historischen
Dramcnpoesie näher, als der "Moritz von Sachsen", da in ihnen
die historische Wahrheit, die der Dichter über Alles heilig halten
sollte, in viel einfach würdigerer Weise respectirt ist. Fragt man nach
der Originalität? Raupach's Ossip, obschon er wenig von einem rus¬
sischen Leibeigenen hat, ist ungefähr die originellste Zeichnung, welche
die Bühnenpoesie der letzten zwanzig Jahre geliefert hat. Man be¬
trachte dagegen den Narren im "Moritz von Sachsen", er scheint dem
Narren im Lear wie aus den Augen, d. h. in Holz, geschnitten. Die
Dichter freilich leben jetzt in einer bösen Zeit; wie zwischen Tod und
Leben ringen sie gegen die Uebermacht von Handel, Industrie, Speku¬
lation und Geldwuchcr, reiben sich an und zwischen den Parteien
blutig wund und erliegen zuletzt dem falschen Geschmack eines ab¬
gematteter, gedankenlosen, den Ernst des Lebens vertändelnden Pub-
licums. Auf letzteres machen freilich blendende moderne Phrasen ei¬
nen größeren augenblicklichen Eindruck, als die strenge und herbe Er¬
scheinung der Geschichte selbst, welche durch ihre einfachen Thatsachen
eindringlicher lehrt, warnt und prophezeiht, als indem sie die Miene
eines überklugen, redseligen sprech- und Schulmeisters annimmt. In
der nordischen Mythologie gibt es die Sage, daß zur Zeit Ragna-
raukr's, des Weltendes, die Asen und Einheriar, die Helden Wal¬
halla'S, dem bösen Loki und den Söhnen MuSpellö erliegen werden;


obschon es die bereits vorhandene Begriffsverwirrung über Zweck
und Wesen der Poesie nur steigern kann, da sich die Verfasser solcher
Stücke daran gewöhnen, als Dichter die Huldigungen in Empfang
zu nehmen, welche einzig und allein der Tendenz dargebracht wer¬
den. Was von den Meisten als ein Fortschritt der Gesinnung be¬
trachtet wird, ist auf der anderen Seite ein beklagenswerther Rück¬
schritt der Poesie zu nennen; und wenn ich die Stücke des von uns
Jüngeren viel .angefeindeten Raupach, dem man allerdings das frü¬
her von ihm besessene Bühnenmonopol, wie die leichtsinnige Ver¬
schwendung seines Talentes zum Vorwurf machen muß, mit der
Mehrzahl der häufig so anmaßlich ausgetretenen Stücke neuerer Zeit
vergleiche, so muß ich bekennen, daß Raupach wenigstens ein größe¬
res Capital ursprünglichen dramatischen Talentes besaß, von dem er
bekanntlich nur zu reichliche Zinsen zu ziehen wußte. Seine aus
leicht kenntlichen Gründen in endlos lange Fäden ausgesponnenen
Hohenstauftntragödien stehen im Grunde dem Ideal der historischen
Dramcnpoesie näher, als der „Moritz von Sachsen", da in ihnen
die historische Wahrheit, die der Dichter über Alles heilig halten
sollte, in viel einfach würdigerer Weise respectirt ist. Fragt man nach
der Originalität? Raupach's Ossip, obschon er wenig von einem rus¬
sischen Leibeigenen hat, ist ungefähr die originellste Zeichnung, welche
die Bühnenpoesie der letzten zwanzig Jahre geliefert hat. Man be¬
trachte dagegen den Narren im „Moritz von Sachsen", er scheint dem
Narren im Lear wie aus den Augen, d. h. in Holz, geschnitten. Die
Dichter freilich leben jetzt in einer bösen Zeit; wie zwischen Tod und
Leben ringen sie gegen die Uebermacht von Handel, Industrie, Speku¬
lation und Geldwuchcr, reiben sich an und zwischen den Parteien
blutig wund und erliegen zuletzt dem falschen Geschmack eines ab¬
gematteter, gedankenlosen, den Ernst des Lebens vertändelnden Pub-
licums. Auf letzteres machen freilich blendende moderne Phrasen ei¬
nen größeren augenblicklichen Eindruck, als die strenge und herbe Er¬
scheinung der Geschichte selbst, welche durch ihre einfachen Thatsachen
eindringlicher lehrt, warnt und prophezeiht, als indem sie die Miene
eines überklugen, redseligen sprech- und Schulmeisters annimmt. In
der nordischen Mythologie gibt es die Sage, daß zur Zeit Ragna-
raukr's, des Weltendes, die Asen und Einheriar, die Helden Wal¬
halla'S, dem bösen Loki und den Söhnen MuSpellö erliegen werden;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/278>, abgerufen am 27.07.2024.