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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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ten Erfolg ihrer Schöpfungen zur Last legen. Klagt man jetzt, daß
es keine so großen Komponisten mehr gibt, wie Mozart und Beetho¬
ven, oder so große Dichter, wie Göthe und Schiller, so könnte man
vielleicht mit demselben Rechte klagen, daß in unseren Friedenszeiten
kein großes militärisches Genie zum Vorschein komme. Die Frage:
warum die deutsche Handelsmarine keinen Nelson erzeugt habe? weiß
jeder Schulbube zu beantworten, nicht so die Kritiker die Frage:
warum es uns jetzt an epochemachenden Dichtern fehle, nicht blos
uns, sondern auch allen übrigen europäischen Völkern? Wenn diese
Erscheinung nicht mit den allgemeinen Verhältnissen im Zusammen¬
hange steht, so gibt es überhaupt keinen Zusammenhang, kein Wech¬
selverhältniß zwischen Ursache und Wirkung. Unsere literarische Kri¬
tik tippt mit ihren ungeschlachten Fingern immer nur nach den ein¬
zelnen Personen, zeichnet sie mit Tinte und sagt: Da! dieser Kerl
taugt Nichts! aber sie unterläßt nachzuweisen: warum der Kerl Nichts
taugt und wie er eben nur ein Product der allgemeinen Zeitverhält¬
nisse sei. Man hat den Dichtern der neuesten Zeit vorgeworfen, sie
machten nur hin und her Experimente; dies ist allerdings wahr,
aber man sollte auch als Entschuldigung hinzufügen, daß sie inner¬
halb eines so schwankenden und zerfahrenen, übersättigten und doch
wieder durch allerlei Reizmittel zum Hunger gestachelten allgemeinen
Zustandes auf nichts Anderes, als auf bloße Experimente angewie¬
sen sein können. Ja, wenn man das Trauerspiel des HerrnPrutz
als ein bloßes Experiment faßt, so gestaltet sich das Urtheil als.
bald ungleich günstiger, so werden wir sagen müssen: die Sprache
und die Verse seien ausnehmend fließend und sprechbar, obgleich nicht
fließender und sprechbarer, als hundert andere deutsche Jambentra¬
giker sie geschrieben haben; hier und da, wenigstens in den ersten
Acten, offenbare sich ein wirkliches theatralisches Geschick, obgleich ihn
auch in dieser Hinsicht Müller, Raupach, Halm und so manche An¬
dere übertroffen haben; der Verfasser lasse manche hübsche, wirksame
und liberale Phrasen laut werden, obgleich mir unsere gesammte po¬
litische liberale Poesie wie eine einzige ungeheuere Trompete mit tau¬
send Mundstücken erscheint, die, mag Hinz oder Kunz darauf trom¬
peten, immer nur denselben Ton von sich gibt. Als ein solches gut
gemeintes Experiment mag das Trauerspiel immerhin von dem Pub¬
likum deö einen und anderen Stadttheaters beifällig begrüßt werden,


Grenzboten 1844. II.

ten Erfolg ihrer Schöpfungen zur Last legen. Klagt man jetzt, daß
es keine so großen Komponisten mehr gibt, wie Mozart und Beetho¬
ven, oder so große Dichter, wie Göthe und Schiller, so könnte man
vielleicht mit demselben Rechte klagen, daß in unseren Friedenszeiten
kein großes militärisches Genie zum Vorschein komme. Die Frage:
warum die deutsche Handelsmarine keinen Nelson erzeugt habe? weiß
jeder Schulbube zu beantworten, nicht so die Kritiker die Frage:
warum es uns jetzt an epochemachenden Dichtern fehle, nicht blos
uns, sondern auch allen übrigen europäischen Völkern? Wenn diese
Erscheinung nicht mit den allgemeinen Verhältnissen im Zusammen¬
hange steht, so gibt es überhaupt keinen Zusammenhang, kein Wech¬
selverhältniß zwischen Ursache und Wirkung. Unsere literarische Kri¬
tik tippt mit ihren ungeschlachten Fingern immer nur nach den ein¬
zelnen Personen, zeichnet sie mit Tinte und sagt: Da! dieser Kerl
taugt Nichts! aber sie unterläßt nachzuweisen: warum der Kerl Nichts
taugt und wie er eben nur ein Product der allgemeinen Zeitverhält¬
nisse sei. Man hat den Dichtern der neuesten Zeit vorgeworfen, sie
machten nur hin und her Experimente; dies ist allerdings wahr,
aber man sollte auch als Entschuldigung hinzufügen, daß sie inner¬
halb eines so schwankenden und zerfahrenen, übersättigten und doch
wieder durch allerlei Reizmittel zum Hunger gestachelten allgemeinen
Zustandes auf nichts Anderes, als auf bloße Experimente angewie¬
sen sein können. Ja, wenn man das Trauerspiel des HerrnPrutz
als ein bloßes Experiment faßt, so gestaltet sich das Urtheil als.
bald ungleich günstiger, so werden wir sagen müssen: die Sprache
und die Verse seien ausnehmend fließend und sprechbar, obgleich nicht
fließender und sprechbarer, als hundert andere deutsche Jambentra¬
giker sie geschrieben haben; hier und da, wenigstens in den ersten
Acten, offenbare sich ein wirkliches theatralisches Geschick, obgleich ihn
auch in dieser Hinsicht Müller, Raupach, Halm und so manche An¬
dere übertroffen haben; der Verfasser lasse manche hübsche, wirksame
und liberale Phrasen laut werden, obgleich mir unsere gesammte po¬
litische liberale Poesie wie eine einzige ungeheuere Trompete mit tau¬
send Mundstücken erscheint, die, mag Hinz oder Kunz darauf trom¬
peten, immer nur denselben Ton von sich gibt. Als ein solches gut
gemeintes Experiment mag das Trauerspiel immerhin von dem Pub¬
likum deö einen und anderen Stadttheaters beifällig begrüßt werden,


Grenzboten 1844. II.
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[0277] ten Erfolg ihrer Schöpfungen zur Last legen. Klagt man jetzt, daß es keine so großen Komponisten mehr gibt, wie Mozart und Beetho¬ ven, oder so große Dichter, wie Göthe und Schiller, so könnte man vielleicht mit demselben Rechte klagen, daß in unseren Friedenszeiten kein großes militärisches Genie zum Vorschein komme. Die Frage: warum die deutsche Handelsmarine keinen Nelson erzeugt habe? weiß jeder Schulbube zu beantworten, nicht so die Kritiker die Frage: warum es uns jetzt an epochemachenden Dichtern fehle, nicht blos uns, sondern auch allen übrigen europäischen Völkern? Wenn diese Erscheinung nicht mit den allgemeinen Verhältnissen im Zusammen¬ hange steht, so gibt es überhaupt keinen Zusammenhang, kein Wech¬ selverhältniß zwischen Ursache und Wirkung. Unsere literarische Kri¬ tik tippt mit ihren ungeschlachten Fingern immer nur nach den ein¬ zelnen Personen, zeichnet sie mit Tinte und sagt: Da! dieser Kerl taugt Nichts! aber sie unterläßt nachzuweisen: warum der Kerl Nichts taugt und wie er eben nur ein Product der allgemeinen Zeitverhält¬ nisse sei. Man hat den Dichtern der neuesten Zeit vorgeworfen, sie machten nur hin und her Experimente; dies ist allerdings wahr, aber man sollte auch als Entschuldigung hinzufügen, daß sie inner¬ halb eines so schwankenden und zerfahrenen, übersättigten und doch wieder durch allerlei Reizmittel zum Hunger gestachelten allgemeinen Zustandes auf nichts Anderes, als auf bloße Experimente angewie¬ sen sein können. Ja, wenn man das Trauerspiel des HerrnPrutz als ein bloßes Experiment faßt, so gestaltet sich das Urtheil als. bald ungleich günstiger, so werden wir sagen müssen: die Sprache und die Verse seien ausnehmend fließend und sprechbar, obgleich nicht fließender und sprechbarer, als hundert andere deutsche Jambentra¬ giker sie geschrieben haben; hier und da, wenigstens in den ersten Acten, offenbare sich ein wirkliches theatralisches Geschick, obgleich ihn auch in dieser Hinsicht Müller, Raupach, Halm und so manche An¬ dere übertroffen haben; der Verfasser lasse manche hübsche, wirksame und liberale Phrasen laut werden, obgleich mir unsere gesammte po¬ litische liberale Poesie wie eine einzige ungeheuere Trompete mit tau¬ send Mundstücken erscheint, die, mag Hinz oder Kunz darauf trom¬ peten, immer nur denselben Ton von sich gibt. Als ein solches gut gemeintes Experiment mag das Trauerspiel immerhin von dem Pub¬ likum deö einen und anderen Stadttheaters beifällig begrüßt werden, Grenzboten 1844. II.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/277>, abgerufen am 27.07.2024.