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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Beste wäre vielleicht, wenn wir den Zopf emancipirten; man lasse
es wenigstens Die, so wollen, versuchen. -- Denn


"Wer will auch Alles gleich ergründen!
'

"Wenn der Schnee schmilzt, wird sichS finden."


Und Einiges hat sich bereits gefunden. Den Dichtern aber thut Be¬
harrlichkeit Noth und unermüdlicher Eifer; und Schauspieler und
Publicum, sie mögen ihnen entgegenkommen mit reger Theilnahme.
Denn ohne Kanzel und Gemeinde kein Prediger, ohne Tribüne und
Volk kein Redner. Vermittelnd dann zwischen Autor und Publicum
soll die Kritik stehen, zugleich wohlwollend und verständig. Wohin
aber ist es mit unserer Kritik gekommen seit Lessing, Schlegel, Tieck
und Börne! Sie ist beinahe ungeschickter, als das Publicum; und
das will immer etwas sagen. Nur an Ein Beispiel will ich erin¬
nern, um zu zeigen, wie beide sich, Kritik und Publicum, zum Dich¬
ter verhalten. Hebbel's Judith kam vor mehreren Jahren in Berlin
zur Aufführung, man sagt, auf Betrieb der Crelinger. Der Crelinger
dafür alle Ehre! Hebbel's Judith war vielleicht ein unreifes Werk;
ich will nach einer einzelnen Aufführung kein Gesammturtheil fällen.
Aber das weiß ich, sie war vom Genius gezeugt und aus dem Schooß
der lauteren Poesie geboren. Sie war vielleicht fehlerhaft in der
Composttion, nicht überall in ihren Charakteren analog der Zeit und
dem Ort ihrer Handlung, frech vielleicht in ihrer doch interessanten
Katastrophe, forcirt hier und da in Styl und Ausdruck; aber in
ihrer fehlerhaften Komposition hochbedeutsam war sie, hochbedeutsam
in ihren immerhin modernisirten Charakteren, interessant in ihrer mei¬
netwegen frechen Katastrophe, wunderbar original, markig und ge¬
drungen in ihrer hier und da formten Prosa, wetterleuchtend ihre
Bilder, wie eine Waldöffnung mit neuen Aussichten, überraschend
jede Wendung, ein Schuß in'ö Schwarze jedes Wort! Die Volks-
scenen im Besonderen waren dem Besten vergleichbar, was Shak-
speare und Göthe in dieser Hinsicht gegeben. Genug, es war Poe¬
sie, und das ist es denn doch am Ende, worauf es überall und zu¬
nächst ankommt. Ein solches Werk nun empfing natürlich Berlins
hochgebildetes Publicum mit freudigem Erstaunen, die Kritik zwar
als Kritik, aber doch mit dem herzlichsten Gruße, mit der lebhaftesten
Anerkennung, mit der aufmunderndsten Theilnahme, eingedenk der
bekannten Lessing'schen Regel? Gott bewahre! Ich weiß nicht, ob die


Beste wäre vielleicht, wenn wir den Zopf emancipirten; man lasse
es wenigstens Die, so wollen, versuchen. — Denn


„Wer will auch Alles gleich ergründen!
'

„Wenn der Schnee schmilzt, wird sichS finden."


Und Einiges hat sich bereits gefunden. Den Dichtern aber thut Be¬
harrlichkeit Noth und unermüdlicher Eifer; und Schauspieler und
Publicum, sie mögen ihnen entgegenkommen mit reger Theilnahme.
Denn ohne Kanzel und Gemeinde kein Prediger, ohne Tribüne und
Volk kein Redner. Vermittelnd dann zwischen Autor und Publicum
soll die Kritik stehen, zugleich wohlwollend und verständig. Wohin
aber ist es mit unserer Kritik gekommen seit Lessing, Schlegel, Tieck
und Börne! Sie ist beinahe ungeschickter, als das Publicum; und
das will immer etwas sagen. Nur an Ein Beispiel will ich erin¬
nern, um zu zeigen, wie beide sich, Kritik und Publicum, zum Dich¬
ter verhalten. Hebbel's Judith kam vor mehreren Jahren in Berlin
zur Aufführung, man sagt, auf Betrieb der Crelinger. Der Crelinger
dafür alle Ehre! Hebbel's Judith war vielleicht ein unreifes Werk;
ich will nach einer einzelnen Aufführung kein Gesammturtheil fällen.
Aber das weiß ich, sie war vom Genius gezeugt und aus dem Schooß
der lauteren Poesie geboren. Sie war vielleicht fehlerhaft in der
Composttion, nicht überall in ihren Charakteren analog der Zeit und
dem Ort ihrer Handlung, frech vielleicht in ihrer doch interessanten
Katastrophe, forcirt hier und da in Styl und Ausdruck; aber in
ihrer fehlerhaften Komposition hochbedeutsam war sie, hochbedeutsam
in ihren immerhin modernisirten Charakteren, interessant in ihrer mei¬
netwegen frechen Katastrophe, wunderbar original, markig und ge¬
drungen in ihrer hier und da formten Prosa, wetterleuchtend ihre
Bilder, wie eine Waldöffnung mit neuen Aussichten, überraschend
jede Wendung, ein Schuß in'ö Schwarze jedes Wort! Die Volks-
scenen im Besonderen waren dem Besten vergleichbar, was Shak-
speare und Göthe in dieser Hinsicht gegeben. Genug, es war Poe¬
sie, und das ist es denn doch am Ende, worauf es überall und zu¬
nächst ankommt. Ein solches Werk nun empfing natürlich Berlins
hochgebildetes Publicum mit freudigem Erstaunen, die Kritik zwar
als Kritik, aber doch mit dem herzlichsten Gruße, mit der lebhaftesten
Anerkennung, mit der aufmunderndsten Theilnahme, eingedenk der
bekannten Lessing'schen Regel? Gott bewahre! Ich weiß nicht, ob die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/22>, abgerufen am 27.07.2024.