Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.wie die schön ausklingende Iphigenia; aber er hat in Stoff, Gehalt wie die schön ausklingende Iphigenia; aber er hat in Stoff, Gehalt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181203"/> <p xml:id="ID_19" prev="#ID_18" next="#ID_20"> wie die schön ausklingende Iphigenia; aber er hat in Stoff, Gehalt<lb/> und Form ein so durchaus deutsches Gepräge, daß ich wohl sagen<lb/> mochte, hier sei durch einen genialen Wurf die Sache, wo nicht völ¬<lb/> lig entschieden, doch in ihrem Kern erfaßt, wo nicht erledigt, doch<lb/> in den meisten Punkten deutlich vorgezeichnet. Eine noch lebendig<lb/> wirksame, echtdeutsche Sage der Stoff, ein durchaus nationaler Ge¬<lb/> halt, will man lieber sagen, aus ihr entwickelt oder in sie versenkt,<lb/> und dazu mit natürlicher Consequenz eine Form, die unsern Sinn<lb/> so heimisch, so vertraulich gemahnt, daß wir sie unmittelbar als die<lb/> unsrige empfinden und uns vielleicht nur eben darum ihre Originali¬<lb/> tät noch nicht zum Bewußtsein gebracht haben. Ort und Zeit sind<lb/> frei und bequem behandelt, und doch erscheint Alles in die unmittel¬<lb/> barste Nähe gerückt, das Wunderbare und Dämonische überall an¬<lb/> spielend und ahnungsvoll gemahnend und doch zu jo menschlicher<lb/> Weise ermäßigt, die Mannichfaltigkeit der Personen und Zustände<lb/> durch geschickte und natürliche Gliederung zu leicht übersehbaren<lb/> Gruppen und Massen geordnet, überall ein enger, leichtfaßlicher, ge¬<lb/> wissermaßen heimlicher Vordergrund mit unabsehbaren Perspektiven,<lb/> doch nicht sowohl in die Welt des Aeußern, als des Innern; das<lb/> musikalische Element mit dem ganzen Gedicht aufs Innigste ver¬<lb/> schmolzen, in Reim und Rhythmus wiederklingend: der Vers selbst<lb/> mit seinen vier Hebungen der deutscheste, der eristirt und so fort.<lb/> Näher auf die Sache einzugehen, erlaubt der Ort nicht. Nur soviel<lb/> noch. Mir erscheint, so seltsam es klingen mag, der Faust als eine<lb/> Fortsetzung unsrer ältesten dramatischen Poesie, wie z. B. des Haus<lb/> Sachs. Wie vielfach er an diesen, auch bei Bearbeitung des Faust,<lb/> angeknüpft, sagt Göthe selbst mehrmals, und manche kleine drama¬<lb/> tische Sachen geben dafür noch weiteres Zeugniß. Im Faust ist die<lb/> Form der alten Mysterien, mit denen die dramatische Poesie sämmt¬<lb/> licher neueuropäischer Völker begann, zur höchsten Kunstbedeutung<lb/> gesteigert. Um so seltsamer, daß man Göthe auf diesem Wege am<lb/> wenigsten gefolgt ist. — Schiller ging wieder von der Shakspeare.-<lb/> sehen Form aus, und seine Taktik war, diese Form so viel als mög¬<lb/> lich zu verengern und zu ermäßigen, ein Versehen, von dem er nur<lb/> einmal abging, als er in der Braut von Messina antiken Vorbil¬<lb/> dern folgte. Gervinus hat ihn um seiner Form willen sehr hoch<lb/> gepriesen und räth, dieselbe als reget- und maßgebend zu betrachten.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
wie die schön ausklingende Iphigenia; aber er hat in Stoff, Gehalt
und Form ein so durchaus deutsches Gepräge, daß ich wohl sagen
mochte, hier sei durch einen genialen Wurf die Sache, wo nicht völ¬
lig entschieden, doch in ihrem Kern erfaßt, wo nicht erledigt, doch
in den meisten Punkten deutlich vorgezeichnet. Eine noch lebendig
wirksame, echtdeutsche Sage der Stoff, ein durchaus nationaler Ge¬
halt, will man lieber sagen, aus ihr entwickelt oder in sie versenkt,
und dazu mit natürlicher Consequenz eine Form, die unsern Sinn
so heimisch, so vertraulich gemahnt, daß wir sie unmittelbar als die
unsrige empfinden und uns vielleicht nur eben darum ihre Originali¬
tät noch nicht zum Bewußtsein gebracht haben. Ort und Zeit sind
frei und bequem behandelt, und doch erscheint Alles in die unmittel¬
barste Nähe gerückt, das Wunderbare und Dämonische überall an¬
spielend und ahnungsvoll gemahnend und doch zu jo menschlicher
Weise ermäßigt, die Mannichfaltigkeit der Personen und Zustände
durch geschickte und natürliche Gliederung zu leicht übersehbaren
Gruppen und Massen geordnet, überall ein enger, leichtfaßlicher, ge¬
wissermaßen heimlicher Vordergrund mit unabsehbaren Perspektiven,
doch nicht sowohl in die Welt des Aeußern, als des Innern; das
musikalische Element mit dem ganzen Gedicht aufs Innigste ver¬
schmolzen, in Reim und Rhythmus wiederklingend: der Vers selbst
mit seinen vier Hebungen der deutscheste, der eristirt und so fort.
Näher auf die Sache einzugehen, erlaubt der Ort nicht. Nur soviel
noch. Mir erscheint, so seltsam es klingen mag, der Faust als eine
Fortsetzung unsrer ältesten dramatischen Poesie, wie z. B. des Haus
Sachs. Wie vielfach er an diesen, auch bei Bearbeitung des Faust,
angeknüpft, sagt Göthe selbst mehrmals, und manche kleine drama¬
tische Sachen geben dafür noch weiteres Zeugniß. Im Faust ist die
Form der alten Mysterien, mit denen die dramatische Poesie sämmt¬
licher neueuropäischer Völker begann, zur höchsten Kunstbedeutung
gesteigert. Um so seltsamer, daß man Göthe auf diesem Wege am
wenigsten gefolgt ist. — Schiller ging wieder von der Shakspeare.-
sehen Form aus, und seine Taktik war, diese Form so viel als mög¬
lich zu verengern und zu ermäßigen, ein Versehen, von dem er nur
einmal abging, als er in der Braut von Messina antiken Vorbil¬
dern folgte. Gervinus hat ihn um seiner Form willen sehr hoch
gepriesen und räth, dieselbe als reget- und maßgebend zu betrachten.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |