Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.seine Charaktere, das ihm eigenthümliche Pathos, seinen Humor und "Steh'n uns diese weiten Falten "An Gesichte, wie dem Alten?" Die Gefahr, in's Formlose zu gerathen, ist dadurch nicht immer ver¬ seine Charaktere, das ihm eigenthümliche Pathos, seinen Humor und „Steh'n uns diese weiten Falten „An Gesichte, wie dem Alten?" Die Gefahr, in's Formlose zu gerathen, ist dadurch nicht immer ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181202"/> <p xml:id="ID_17" prev="#ID_16" next="#ID_18"> seine Charaktere, das ihm eigenthümliche Pathos, seinen Humor und<lb/> so fort. Doch:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_1" type="poem"> <l> „Steh'n uns diese weiten Falten<lb/> „An Gesichte, wie dem Alten?"</l> </lg><lb/> <p xml:id="ID_18" prev="#ID_17" next="#ID_19"> Die Gefahr, in's Formlose zu gerathen, ist dadurch nicht immer ver¬<lb/> mieden worden. Lessing verhielt sich in dieser Hinsicht außerordent¬<lb/> lich mäßig, die Anlage seiner Dramen ist meist sehr einfach und<lb/> knapp; auch hat er anfangs nicht einmal von dem Shakspeare'schen<lb/> Verse Gebrauch gemacht, erst den Nathan hat er in diesem Metrum<lb/> geschrieben. Eine eigenthümliche Form hat er nicht gefunden, aber<lb/> er hat mindestens ein der Zeit entsprechendes Surrogat gegeben, in¬<lb/> dem er sich die Shakspeare'sche Form zurecht machte und in's Enge<lb/> zog. — Göthe hat, wie er selbst sagt, im Götz und später im Eg-<lb/> mont dem Briten seinen Tribut gezahlt; dann ist er wieder — zu<lb/> den Griechen in die Schule gegangen. Mit der Iphigenia glaubte<lb/> man das Geheimniß gefunden, hier schien antiker und moderner<lb/> Geist versöhnt in der reinsten, edelsten, wohl nach alten Vorbildern<lb/> construirten, aber unsrem Sinn, unsrem Aug' und Ohr nirgends<lb/> fremden, vielmehr auf's Feinste angepaßten Form. Die Iphigenie<lb/> bleibt gewiß ein vollendetes Kunstwerk für alle Zeiten; aber, wenn<lb/> auch von großem Einfluß, da sie zu schöner Mäßigung einlud, hat<lb/> sie doch die Gestalt unsers Dramas dauernd zu bestimmen nicht ver¬<lb/> mocht. Göthe selbst ist auf diesem Wege nicht geblieben, sondern,<lb/> nachdem er sogar wieder auf die Franzosen hingewiesen, schloß er<lb/> sich immer enger an die Alten an und gefiel sich zuletzt darin, sein<lb/> schönes freies Wesen ganz unter die fremde Maske zu stecken, woraus<lb/> er nur hier und da mit einer eigenen Ironie hervorblickt. Und so<lb/> hat auch dieser herrlule Genius, dessen Sinn Auge, dessen Auge<lb/> Licht war, er, so ganz eingetaucht in das Wesen der Schönheit, in<lb/> Maß und Harmonie, so hat auch er vergebens all sein Leben nach<lb/> einer allgemein giltigen Musterform der dramatischen Poesie gesucht.<lb/> Denn ein so schönes und edles Gepräge er diesem oder jenem seiner<lb/> Stücke gab, eine zugleich rein originale und zeitgemäße, maßgebende<lb/> Form, bei der er selbst, so wie der Andere, hätte bleiben können und<lb/> müssen, scheint er nicht gefunden zu haben. — Oder hätte er doch?<lb/> Der Faust ist eS, der auch in dieser Hinsicht Manches zu denken<lb/> gibt. ES mag derselbe kein so rund abgeschlossenes Kunstwerk sein,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
seine Charaktere, das ihm eigenthümliche Pathos, seinen Humor und
so fort. Doch:
„Steh'n uns diese weiten Falten
„An Gesichte, wie dem Alten?"
Die Gefahr, in's Formlose zu gerathen, ist dadurch nicht immer ver¬
mieden worden. Lessing verhielt sich in dieser Hinsicht außerordent¬
lich mäßig, die Anlage seiner Dramen ist meist sehr einfach und
knapp; auch hat er anfangs nicht einmal von dem Shakspeare'schen
Verse Gebrauch gemacht, erst den Nathan hat er in diesem Metrum
geschrieben. Eine eigenthümliche Form hat er nicht gefunden, aber
er hat mindestens ein der Zeit entsprechendes Surrogat gegeben, in¬
dem er sich die Shakspeare'sche Form zurecht machte und in's Enge
zog. — Göthe hat, wie er selbst sagt, im Götz und später im Eg-
mont dem Briten seinen Tribut gezahlt; dann ist er wieder — zu
den Griechen in die Schule gegangen. Mit der Iphigenia glaubte
man das Geheimniß gefunden, hier schien antiker und moderner
Geist versöhnt in der reinsten, edelsten, wohl nach alten Vorbildern
construirten, aber unsrem Sinn, unsrem Aug' und Ohr nirgends
fremden, vielmehr auf's Feinste angepaßten Form. Die Iphigenie
bleibt gewiß ein vollendetes Kunstwerk für alle Zeiten; aber, wenn
auch von großem Einfluß, da sie zu schöner Mäßigung einlud, hat
sie doch die Gestalt unsers Dramas dauernd zu bestimmen nicht ver¬
mocht. Göthe selbst ist auf diesem Wege nicht geblieben, sondern,
nachdem er sogar wieder auf die Franzosen hingewiesen, schloß er
sich immer enger an die Alten an und gefiel sich zuletzt darin, sein
schönes freies Wesen ganz unter die fremde Maske zu stecken, woraus
er nur hier und da mit einer eigenen Ironie hervorblickt. Und so
hat auch dieser herrlule Genius, dessen Sinn Auge, dessen Auge
Licht war, er, so ganz eingetaucht in das Wesen der Schönheit, in
Maß und Harmonie, so hat auch er vergebens all sein Leben nach
einer allgemein giltigen Musterform der dramatischen Poesie gesucht.
Denn ein so schönes und edles Gepräge er diesem oder jenem seiner
Stücke gab, eine zugleich rein originale und zeitgemäße, maßgebende
Form, bei der er selbst, so wie der Andere, hätte bleiben können und
müssen, scheint er nicht gefunden zu haben. — Oder hätte er doch?
Der Faust ist eS, der auch in dieser Hinsicht Manches zu denken
gibt. ES mag derselbe kein so rund abgeschlossenes Kunstwerk sein,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |