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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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schwächliche" Körperbau zu jeder harte" Arbeit untauglich, durch die
Concurreiiz demoralisirt, haben die Elende" "ur "och eine" kleine"
Schritt zum Verbrechen. Wer fürchtet die verzweifelnde Armuth?
Der Staat hat ja ihrem Hunger und ihrer Noth gegenüber noch
seine Gesetze und seine Gefängnisse. -- Hier hilft kein Mitleid und
keine sentimentale Thräne. Sie deuten auf Nichts, als auf Schwäche
und Ohnmacht, und wir bedürfen der organisirende" Kräfte, des un¬
erbittlichen Ernstes. Das unnatürlichste aber ist jenes Pathos der
Sittlichkeit, mit dem sich die Gesellschaft dem armen Verbrecher ge¬
genüber verhält. Sie hält sich für das absolut Reine und ihn für
das absolut Schlechte. Man sagt, das Verbrechen wird vom Elend
gezeugt und geboren, aber was zeugte und gebar dieses Elend? --
Was als die Unnatur, welche entstand, als die alte Welt glaubte,
die Industrie in sich aufnehme" und mit allem Bestehende" versöh¬
nen und ausgleichen zu können?

Wer Fabrikgegenden kennen gelernt hat und sich mit dem Volks¬
zustande daselbst beschäftigte, dem hat die Entsittlichung, welche daS
Concurrenzsystem hervorruft, nicht verborgen bleiben könne". Es
verzehrt alle natürlichen Bande mit seinem fressenden Gifte. Das
Familienleben ist aufgehoben, eS ist keine Seltenheit, daß Kinder
ihren Eltern Kost und Wohnung bezahlen müssen. Man begegnet
Kinderschaaren, geplagt von Scropheln und Rachitis, sie komme"
weder in's Spital, noch in die Schule. Der Staat hat Schulen
eingerichtet, um den Bildungszustand der Armen zu heben, aber ge¬
ben die Schulen der Armuth Brod, bekleiden sie ihre Blöße? Sie
läuft in die Fabrik, um das Nothwendigste dort zu gewinne", den"
was ist der Mangel an Ordnung gegen den Hunger? Die Kirche
ruft zum Gebete, aber der Kirchthurm wird überragt von den Schorn¬
steinen der Fabriken, die Orgeltöne sind übertäubt von Maschinen¬
geklapper, und wer hat Luft, an das Jenseits zu denken, wo das
Diesseits gefährdet ist?

Diese Gedanken sind es, welche sich dem Verfasser milde" im
Tumulte und Glanz der Berliner GeWerbeausstellung aufdrängten.
Sie sind nur aphoristisch, sie sind auch nicht neu, aber es hat noch
Keiner die i'-u-dio lwiitvnsv unseres industrielle" Lebens mit der Ber¬
liner Industrieausstellung in Verbindung gebracht. Nur deshalb sind


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schwächliche» Körperbau zu jeder harte» Arbeit untauglich, durch die
Concurreiiz demoralisirt, haben die Elende» »ur »och eine» kleine»
Schritt zum Verbrechen. Wer fürchtet die verzweifelnde Armuth?
Der Staat hat ja ihrem Hunger und ihrer Noth gegenüber noch
seine Gesetze und seine Gefängnisse. — Hier hilft kein Mitleid und
keine sentimentale Thräne. Sie deuten auf Nichts, als auf Schwäche
und Ohnmacht, und wir bedürfen der organisirende» Kräfte, des un¬
erbittlichen Ernstes. Das unnatürlichste aber ist jenes Pathos der
Sittlichkeit, mit dem sich die Gesellschaft dem armen Verbrecher ge¬
genüber verhält. Sie hält sich für das absolut Reine und ihn für
das absolut Schlechte. Man sagt, das Verbrechen wird vom Elend
gezeugt und geboren, aber was zeugte und gebar dieses Elend? —
Was als die Unnatur, welche entstand, als die alte Welt glaubte,
die Industrie in sich aufnehme» und mit allem Bestehende» versöh¬
nen und ausgleichen zu können?

Wer Fabrikgegenden kennen gelernt hat und sich mit dem Volks¬
zustande daselbst beschäftigte, dem hat die Entsittlichung, welche daS
Concurrenzsystem hervorruft, nicht verborgen bleiben könne». Es
verzehrt alle natürlichen Bande mit seinem fressenden Gifte. Das
Familienleben ist aufgehoben, eS ist keine Seltenheit, daß Kinder
ihren Eltern Kost und Wohnung bezahlen müssen. Man begegnet
Kinderschaaren, geplagt von Scropheln und Rachitis, sie komme»
weder in's Spital, noch in die Schule. Der Staat hat Schulen
eingerichtet, um den Bildungszustand der Armen zu heben, aber ge¬
ben die Schulen der Armuth Brod, bekleiden sie ihre Blöße? Sie
läuft in die Fabrik, um das Nothwendigste dort zu gewinne», den»
was ist der Mangel an Ordnung gegen den Hunger? Die Kirche
ruft zum Gebete, aber der Kirchthurm wird überragt von den Schorn¬
steinen der Fabriken, die Orgeltöne sind übertäubt von Maschinen¬
geklapper, und wer hat Luft, an das Jenseits zu denken, wo das
Diesseits gefährdet ist?

Diese Gedanken sind es, welche sich dem Verfasser milde» im
Tumulte und Glanz der Berliner GeWerbeausstellung aufdrängten.
Sie sind nur aphoristisch, sie sind auch nicht neu, aber es hat noch
Keiner die i'-u-dio lwiitvnsv unseres industrielle» Lebens mit der Ber¬
liner Industrieausstellung in Verbindung gebracht. Nur deshalb sind


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[0175] schwächliche» Körperbau zu jeder harte» Arbeit untauglich, durch die Concurreiiz demoralisirt, haben die Elende» »ur »och eine» kleine» Schritt zum Verbrechen. Wer fürchtet die verzweifelnde Armuth? Der Staat hat ja ihrem Hunger und ihrer Noth gegenüber noch seine Gesetze und seine Gefängnisse. — Hier hilft kein Mitleid und keine sentimentale Thräne. Sie deuten auf Nichts, als auf Schwäche und Ohnmacht, und wir bedürfen der organisirende» Kräfte, des un¬ erbittlichen Ernstes. Das unnatürlichste aber ist jenes Pathos der Sittlichkeit, mit dem sich die Gesellschaft dem armen Verbrecher ge¬ genüber verhält. Sie hält sich für das absolut Reine und ihn für das absolut Schlechte. Man sagt, das Verbrechen wird vom Elend gezeugt und geboren, aber was zeugte und gebar dieses Elend? — Was als die Unnatur, welche entstand, als die alte Welt glaubte, die Industrie in sich aufnehme» und mit allem Bestehende» versöh¬ nen und ausgleichen zu können? Wer Fabrikgegenden kennen gelernt hat und sich mit dem Volks¬ zustande daselbst beschäftigte, dem hat die Entsittlichung, welche daS Concurrenzsystem hervorruft, nicht verborgen bleiben könne». Es verzehrt alle natürlichen Bande mit seinem fressenden Gifte. Das Familienleben ist aufgehoben, eS ist keine Seltenheit, daß Kinder ihren Eltern Kost und Wohnung bezahlen müssen. Man begegnet Kinderschaaren, geplagt von Scropheln und Rachitis, sie komme» weder in's Spital, noch in die Schule. Der Staat hat Schulen eingerichtet, um den Bildungszustand der Armen zu heben, aber ge¬ ben die Schulen der Armuth Brod, bekleiden sie ihre Blöße? Sie läuft in die Fabrik, um das Nothwendigste dort zu gewinne», den» was ist der Mangel an Ordnung gegen den Hunger? Die Kirche ruft zum Gebete, aber der Kirchthurm wird überragt von den Schorn¬ steinen der Fabriken, die Orgeltöne sind übertäubt von Maschinen¬ geklapper, und wer hat Luft, an das Jenseits zu denken, wo das Diesseits gefährdet ist? Diese Gedanken sind es, welche sich dem Verfasser milde» im Tumulte und Glanz der Berliner GeWerbeausstellung aufdrängten. Sie sind nur aphoristisch, sie sind auch nicht neu, aber es hat noch Keiner die i'-u-dio lwiitvnsv unseres industrielle» Lebens mit der Ber¬ liner Industrieausstellung in Verbindung gebracht. Nur deshalb sind 22-i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/175>, abgerufen am 01.09.2024.