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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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hohe Weißbierkanne versammelt hatte. Denn Madame Wonnig hatte
heute das apfelgrüne Seidenkleid und das große Umschlagetuch her¬
vorgeholt und ihr Haupt mit der hohen stolzen Haube geschmückt,
auf der unzählige von rosafarbenen Schleifen sich stolz bewegten.
Ich kannte diese Kostbarkeiten schon, denn ich hatte sie im vergange¬
nen Winter immer mit ihrem Manne zanken hören, daß sie nun auch
dies habe versetzen müssen und zu Weihnachten nicht habe in die
Kirche gehen können. Madame Wonnig bemerkte mich bald, und es
trieb mich auch, zu ihnen an den Tisch zu gehen. -- Meine
Frau sagt, daß man den Kindern einmal ein Vergnügen machen
muß, meinte Herr Wonnig, ohne mich anzusehen, da ich an der Seite
stand und er den Kopf in den Vatermördern nicht bewegen konnte.
Madame Wonnig fing mir mit ihrer bald in Bewegung gesetzten,
sehr geschäftigen Zunge zu erzählen an. Für's Erste eine Trauer¬
nachricht, die mich sehr wehmüthig berührte. Mein alter Freund im
Dachstübchen war gestorben. Schon lange hatte er krank und elend
ausgesehen und von seinem nahen Tode gesprochen. Endlich fand
man ihn an einem schonen Maimorgen todt am Schreibtisch, nach¬
dem er noch in der Nacht seine Promenade gemacht hatte. Sein
Nachlaß bestand in den dünnen Kleidungsstücken, die er täglich trug,
drei zerrissenen Hemden, einem Achtgroschenstück und einem großen,
eingesiegelten Buch, an mich adressirt. Sein Verwandter, ver Ein¬
zige, der ihn zu seiner letzten Ruhestätte begleitete, hatte dieses Ver-
mächtnisses wegen Madame Wonnig schon öfter nach meiner Woh¬
nung gefragt. Emilie war seit jenem Krankheitsanfall nicht wieder
gesund geworden. Sie wankte zwar noch mehrere Male des Abends
mit der Guitarre fort, wurde aber dann gewöhnlich ohnmächtig und
in Krämpfen nach Hause gebracht. Da sie so Nichts mehr verdie¬
nen konnte und ihrer Mutter zur Last zu werden anfing, wurde sie
von derselben als eine "faule, liederliche Dirne" zur Thüre hinaus¬
geprügelt. Sie konnte sich nicht entschließen, sich noch einmal dieser
Behandlung auszusetzen und zurückzukehren. Im heftigsten Fieber¬
anfall lief sie zu einem Weinhändler, der früher, als sie ihm noch
die Gäste anzog und mit ihnen singen und trinken konnte, immer sehr
freundlich gegen sie gewesen war. Sie bat ihn um ein Nachtlager,
er aber sagte, daß er solche liederliche Brut in seinem Hause nicht
dulden könne. Mir, der einzige Mensch, der sich ihrer angenommen


hohe Weißbierkanne versammelt hatte. Denn Madame Wonnig hatte
heute das apfelgrüne Seidenkleid und das große Umschlagetuch her¬
vorgeholt und ihr Haupt mit der hohen stolzen Haube geschmückt,
auf der unzählige von rosafarbenen Schleifen sich stolz bewegten.
Ich kannte diese Kostbarkeiten schon, denn ich hatte sie im vergange¬
nen Winter immer mit ihrem Manne zanken hören, daß sie nun auch
dies habe versetzen müssen und zu Weihnachten nicht habe in die
Kirche gehen können. Madame Wonnig bemerkte mich bald, und es
trieb mich auch, zu ihnen an den Tisch zu gehen. — Meine
Frau sagt, daß man den Kindern einmal ein Vergnügen machen
muß, meinte Herr Wonnig, ohne mich anzusehen, da ich an der Seite
stand und er den Kopf in den Vatermördern nicht bewegen konnte.
Madame Wonnig fing mir mit ihrer bald in Bewegung gesetzten,
sehr geschäftigen Zunge zu erzählen an. Für's Erste eine Trauer¬
nachricht, die mich sehr wehmüthig berührte. Mein alter Freund im
Dachstübchen war gestorben. Schon lange hatte er krank und elend
ausgesehen und von seinem nahen Tode gesprochen. Endlich fand
man ihn an einem schonen Maimorgen todt am Schreibtisch, nach¬
dem er noch in der Nacht seine Promenade gemacht hatte. Sein
Nachlaß bestand in den dünnen Kleidungsstücken, die er täglich trug,
drei zerrissenen Hemden, einem Achtgroschenstück und einem großen,
eingesiegelten Buch, an mich adressirt. Sein Verwandter, ver Ein¬
zige, der ihn zu seiner letzten Ruhestätte begleitete, hatte dieses Ver-
mächtnisses wegen Madame Wonnig schon öfter nach meiner Woh¬
nung gefragt. Emilie war seit jenem Krankheitsanfall nicht wieder
gesund geworden. Sie wankte zwar noch mehrere Male des Abends
mit der Guitarre fort, wurde aber dann gewöhnlich ohnmächtig und
in Krämpfen nach Hause gebracht. Da sie so Nichts mehr verdie¬
nen konnte und ihrer Mutter zur Last zu werden anfing, wurde sie
von derselben als eine „faule, liederliche Dirne" zur Thüre hinaus¬
geprügelt. Sie konnte sich nicht entschließen, sich noch einmal dieser
Behandlung auszusetzen und zurückzukehren. Im heftigsten Fieber¬
anfall lief sie zu einem Weinhändler, der früher, als sie ihm noch
die Gäste anzog und mit ihnen singen und trinken konnte, immer sehr
freundlich gegen sie gewesen war. Sie bat ihn um ein Nachtlager,
er aber sagte, daß er solche liederliche Brut in seinem Hause nicht
dulden könne. Mir, der einzige Mensch, der sich ihrer angenommen


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[0408] hohe Weißbierkanne versammelt hatte. Denn Madame Wonnig hatte heute das apfelgrüne Seidenkleid und das große Umschlagetuch her¬ vorgeholt und ihr Haupt mit der hohen stolzen Haube geschmückt, auf der unzählige von rosafarbenen Schleifen sich stolz bewegten. Ich kannte diese Kostbarkeiten schon, denn ich hatte sie im vergange¬ nen Winter immer mit ihrem Manne zanken hören, daß sie nun auch dies habe versetzen müssen und zu Weihnachten nicht habe in die Kirche gehen können. Madame Wonnig bemerkte mich bald, und es trieb mich auch, zu ihnen an den Tisch zu gehen. — Meine Frau sagt, daß man den Kindern einmal ein Vergnügen machen muß, meinte Herr Wonnig, ohne mich anzusehen, da ich an der Seite stand und er den Kopf in den Vatermördern nicht bewegen konnte. Madame Wonnig fing mir mit ihrer bald in Bewegung gesetzten, sehr geschäftigen Zunge zu erzählen an. Für's Erste eine Trauer¬ nachricht, die mich sehr wehmüthig berührte. Mein alter Freund im Dachstübchen war gestorben. Schon lange hatte er krank und elend ausgesehen und von seinem nahen Tode gesprochen. Endlich fand man ihn an einem schonen Maimorgen todt am Schreibtisch, nach¬ dem er noch in der Nacht seine Promenade gemacht hatte. Sein Nachlaß bestand in den dünnen Kleidungsstücken, die er täglich trug, drei zerrissenen Hemden, einem Achtgroschenstück und einem großen, eingesiegelten Buch, an mich adressirt. Sein Verwandter, ver Ein¬ zige, der ihn zu seiner letzten Ruhestätte begleitete, hatte dieses Ver- mächtnisses wegen Madame Wonnig schon öfter nach meiner Woh¬ nung gefragt. Emilie war seit jenem Krankheitsanfall nicht wieder gesund geworden. Sie wankte zwar noch mehrere Male des Abends mit der Guitarre fort, wurde aber dann gewöhnlich ohnmächtig und in Krämpfen nach Hause gebracht. Da sie so Nichts mehr verdie¬ nen konnte und ihrer Mutter zur Last zu werden anfing, wurde sie von derselben als eine „faule, liederliche Dirne" zur Thüre hinaus¬ geprügelt. Sie konnte sich nicht entschließen, sich noch einmal dieser Behandlung auszusetzen und zurückzukehren. Im heftigsten Fieber¬ anfall lief sie zu einem Weinhändler, der früher, als sie ihm noch die Gäste anzog und mit ihnen singen und trinken konnte, immer sehr freundlich gegen sie gewesen war. Sie bat ihn um ein Nachtlager, er aber sagte, daß er solche liederliche Brut in seinem Hause nicht dulden könne. Mir, der einzige Mensch, der sich ihrer angenommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/408>, abgerufen am 23.12.2024.