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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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recht sinnlosen Romanen mehr lästig als angenehm wirkt. Aber das
Mitgefühl, das Boz mit der Armuth und dem Laster hat, wird doch
gewiß das zartfühlende Herz der Fräulein Agnes nicht unberührt ge¬
lassen haben, meinte der wohlthätige Felir, den in Boz besonders
seine sentimentale Seite angesprochen hatte. -- Gibt es aber nicht andere
erhabenere, zartere Dinge, uns zu rühren, antwortete Agnes, als
den Anblick von Bettlern, wie wir sie täglich auf den Straßen sehen,
oder von verworfenen, gemeinem Gesindel, das wir gar nicht sehen
und kennen wollen? Das sind schlechte Mittel, den Effect hervorzu¬
rufen; ein guter Dichter wird sich ihrer nimmer bedienen. Während
Fräulein Agnes von diesen tiefen Gesichtspunkten aus dieses höchst
geistreiche Gespräch in derselben Weise, mit wahrhaft liebenswürdiger
Selbstgefälligkeit fortführte, und Felix's Blicke mit einem unnennbaren
Ausdruck von sprachloser Bewunderung auf den Marmorzügen der
urtheilenden Schönen ruhten, hörte ich, als ich eben auf dem Wege
war, die näheren Motive zu finden, warum er Mathilden so plötz.
lich verlassen habe, am anderen Ende des Zimmers den Namen
"Liszt" nennen.

ES war dies nämlich in jener Zeit, da Berlin gerade in seinem
wonnereichsten Lisztrausche lag, in jener ewig denkwürdigen Zeit, über
die einmal ein späterer Culturhistoriker staunen, sie mit ewigem Griffel
in die Bücher der Geschichte eintragen und als Zeichen von der
Größe des gegenwärtigen Geschlechts und seiner guten Gesellschaft,
seinen zwerghaften, geiht- und thatlosen Zeitgenossen entgegenhalten
wird. Berlin war damals der Schauplatz wichtiger Ereignisse und
Thaten, eine großartige Begebenheit drängte die andere: Liszt
ist heute dort geladen, morgen ist er da, gestern hat er auf der
Straße mit der oder jener Dame gesprochen, vorgestern hat er im
Gasthofe so und so viel Champagner getrunken, zum übermorgenden
Concert sind alle Billete schon vergeben u. s. w. Ich muß gestehen,
die Erzählungen dieser großartigen Begebenheiten hatten einen so an¬
greifenden Eindruck auf meine Nerven gemacht, daß ich ihretwegen
schon längst die Gesellschaft gemieden hatte. Jetzt also hörte ich plötz.
lich im Salon des Herrn Hofraths den Namen "Liszt" ausspre-
chen und sah gleich den gefürchteten Schrecken des Abends in seiner
ganzen Gestalt vor mir. Auch Felir und Agnes horchten gleich hoch
auf und unterbrachen ihre für mich so interessante Unterhaltung. Man


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recht sinnlosen Romanen mehr lästig als angenehm wirkt. Aber das
Mitgefühl, das Boz mit der Armuth und dem Laster hat, wird doch
gewiß das zartfühlende Herz der Fräulein Agnes nicht unberührt ge¬
lassen haben, meinte der wohlthätige Felir, den in Boz besonders
seine sentimentale Seite angesprochen hatte. — Gibt es aber nicht andere
erhabenere, zartere Dinge, uns zu rühren, antwortete Agnes, als
den Anblick von Bettlern, wie wir sie täglich auf den Straßen sehen,
oder von verworfenen, gemeinem Gesindel, das wir gar nicht sehen
und kennen wollen? Das sind schlechte Mittel, den Effect hervorzu¬
rufen; ein guter Dichter wird sich ihrer nimmer bedienen. Während
Fräulein Agnes von diesen tiefen Gesichtspunkten aus dieses höchst
geistreiche Gespräch in derselben Weise, mit wahrhaft liebenswürdiger
Selbstgefälligkeit fortführte, und Felix's Blicke mit einem unnennbaren
Ausdruck von sprachloser Bewunderung auf den Marmorzügen der
urtheilenden Schönen ruhten, hörte ich, als ich eben auf dem Wege
war, die näheren Motive zu finden, warum er Mathilden so plötz.
lich verlassen habe, am anderen Ende des Zimmers den Namen
„Liszt" nennen.

ES war dies nämlich in jener Zeit, da Berlin gerade in seinem
wonnereichsten Lisztrausche lag, in jener ewig denkwürdigen Zeit, über
die einmal ein späterer Culturhistoriker staunen, sie mit ewigem Griffel
in die Bücher der Geschichte eintragen und als Zeichen von der
Größe des gegenwärtigen Geschlechts und seiner guten Gesellschaft,
seinen zwerghaften, geiht- und thatlosen Zeitgenossen entgegenhalten
wird. Berlin war damals der Schauplatz wichtiger Ereignisse und
Thaten, eine großartige Begebenheit drängte die andere: Liszt
ist heute dort geladen, morgen ist er da, gestern hat er auf der
Straße mit der oder jener Dame gesprochen, vorgestern hat er im
Gasthofe so und so viel Champagner getrunken, zum übermorgenden
Concert sind alle Billete schon vergeben u. s. w. Ich muß gestehen,
die Erzählungen dieser großartigen Begebenheiten hatten einen so an¬
greifenden Eindruck auf meine Nerven gemacht, daß ich ihretwegen
schon längst die Gesellschaft gemieden hatte. Jetzt also hörte ich plötz.
lich im Salon des Herrn Hofraths den Namen „Liszt" ausspre-
chen und sah gleich den gefürchteten Schrecken des Abends in seiner
ganzen Gestalt vor mir. Auch Felir und Agnes horchten gleich hoch
auf und unterbrachen ihre für mich so interessante Unterhaltung. Man


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[0395] recht sinnlosen Romanen mehr lästig als angenehm wirkt. Aber das Mitgefühl, das Boz mit der Armuth und dem Laster hat, wird doch gewiß das zartfühlende Herz der Fräulein Agnes nicht unberührt ge¬ lassen haben, meinte der wohlthätige Felir, den in Boz besonders seine sentimentale Seite angesprochen hatte. — Gibt es aber nicht andere erhabenere, zartere Dinge, uns zu rühren, antwortete Agnes, als den Anblick von Bettlern, wie wir sie täglich auf den Straßen sehen, oder von verworfenen, gemeinem Gesindel, das wir gar nicht sehen und kennen wollen? Das sind schlechte Mittel, den Effect hervorzu¬ rufen; ein guter Dichter wird sich ihrer nimmer bedienen. Während Fräulein Agnes von diesen tiefen Gesichtspunkten aus dieses höchst geistreiche Gespräch in derselben Weise, mit wahrhaft liebenswürdiger Selbstgefälligkeit fortführte, und Felix's Blicke mit einem unnennbaren Ausdruck von sprachloser Bewunderung auf den Marmorzügen der urtheilenden Schönen ruhten, hörte ich, als ich eben auf dem Wege war, die näheren Motive zu finden, warum er Mathilden so plötz. lich verlassen habe, am anderen Ende des Zimmers den Namen „Liszt" nennen. ES war dies nämlich in jener Zeit, da Berlin gerade in seinem wonnereichsten Lisztrausche lag, in jener ewig denkwürdigen Zeit, über die einmal ein späterer Culturhistoriker staunen, sie mit ewigem Griffel in die Bücher der Geschichte eintragen und als Zeichen von der Größe des gegenwärtigen Geschlechts und seiner guten Gesellschaft, seinen zwerghaften, geiht- und thatlosen Zeitgenossen entgegenhalten wird. Berlin war damals der Schauplatz wichtiger Ereignisse und Thaten, eine großartige Begebenheit drängte die andere: Liszt ist heute dort geladen, morgen ist er da, gestern hat er auf der Straße mit der oder jener Dame gesprochen, vorgestern hat er im Gasthofe so und so viel Champagner getrunken, zum übermorgenden Concert sind alle Billete schon vergeben u. s. w. Ich muß gestehen, die Erzählungen dieser großartigen Begebenheiten hatten einen so an¬ greifenden Eindruck auf meine Nerven gemacht, daß ich ihretwegen schon längst die Gesellschaft gemieden hatte. Jetzt also hörte ich plötz. lich im Salon des Herrn Hofraths den Namen „Liszt" ausspre- chen und sah gleich den gefürchteten Schrecken des Abends in seiner ganzen Gestalt vor mir. Auch Felir und Agnes horchten gleich hoch auf und unterbrachen ihre für mich so interessante Unterhaltung. Man 49*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/395>, abgerufen am 03.07.2024.