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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Der Hofrath ist nicht blos ein reicher, sondern gilt auch als ein
kenntnißreicher Mann. Er hat in der Gesellschaft den Ruf als Freund
und Beförderer der Wissenschaften und Künste, und versammelt in
seinem Salon die meisten, besonders jüngere Notabilitäten, die sich,
zu seinem größten Stolze, bemühen, der Bildung und dem Geschmack
seiner Tochter in enthusiastischer Weise zu huldigen. Agnes verdient
in der That in der guten Gesellschaft den Namen eines geistreichen
^. ädchens, denn sie spricht sehr gut Französisch und Englisch, spielt
vortrefflich Klavier, sieht sehr bleich und interessant aus, macht höchst
geschmackvolle Toilette, hat Jean Paul und Goethe gelesen und sich
von ihrem Papa den Faust erklären lassen, hat sich auch mit dessen
Hauptsteckenpferd, der italienischen Poesie, vielfach beschäftigt, unter¬
hält sich am Liebsten mit jungen Gelehrten und Künstlern, liest alle
neuen Romane, schwärmt für die Paalzow, kurz sie ist das Muster
dessen, was man in der Gesellschaft ein gebildetes Mädchen ^nennt, ein
Mädchen, mit dem man sich unterhalten kann. In diese geistreiche
Familie war ich zu Fastnacht geladen. Ich fand eine sehr zahlreiche
Gesellschaft und, wie ich vermuthet hatte, auch Herrn Felir mit sei¬
ner Familie. Ich hatte ihn seit jener Begebenheit nicht gesehen; er
kam mir etwas scheu mit seiner gewohnten Gutmüthigkeit entgegen,
vermied es aber natürlich ganz, von unserem neulichen Zusammen¬
treffen zu sprechen. Agnes strich an uns vorüber- Ich habe Ihnen
Ihr Buch wieder zurückgeschickt, sagte sie zu Felir. Fast bin ich böse
auf Sie, das; Sie mich mit so undelicate? Lectüre versorgen, wie Boz
sie in diesen Londoner Skizzen wieder geliefert hat. Dieses Buch
hat mich in meinem Urtheil über Boz neu bestärkt; ich habe es längst
gesagt, er ist kein Dichter, es fehlt ihm jene Delicatesse und Zartheit,
dem feineren Auge zu verbergen, was es nicht ertragen kann. Er
weiß seinen Schilderungen des Lasters und Elends nicht jene ätheri¬
sche Hülle überzuwerfen, die es uns nur ahnen läßt; er hat eine
wahre Freude daran, uns die Zustände des niederen Volks so plump
und gemein zu schildern, wie sie wirklich sind. Während ich mich
in der Wirklichkeit vor dem Hauch dieser Sphären scheue, will ich
auch in einem Buche nicht mit ihm zusammenkommen; das kann nur
Speise für ein höchst ordinäres Publicum sein, eben so wie die
Schriften der Madame Düdevant, die uns gar idealische Schneider¬
und Tischlergesellen als Nomanfiguren vorführt und mit ihren oft


Der Hofrath ist nicht blos ein reicher, sondern gilt auch als ein
kenntnißreicher Mann. Er hat in der Gesellschaft den Ruf als Freund
und Beförderer der Wissenschaften und Künste, und versammelt in
seinem Salon die meisten, besonders jüngere Notabilitäten, die sich,
zu seinem größten Stolze, bemühen, der Bildung und dem Geschmack
seiner Tochter in enthusiastischer Weise zu huldigen. Agnes verdient
in der That in der guten Gesellschaft den Namen eines geistreichen
^. ädchens, denn sie spricht sehr gut Französisch und Englisch, spielt
vortrefflich Klavier, sieht sehr bleich und interessant aus, macht höchst
geschmackvolle Toilette, hat Jean Paul und Goethe gelesen und sich
von ihrem Papa den Faust erklären lassen, hat sich auch mit dessen
Hauptsteckenpferd, der italienischen Poesie, vielfach beschäftigt, unter¬
hält sich am Liebsten mit jungen Gelehrten und Künstlern, liest alle
neuen Romane, schwärmt für die Paalzow, kurz sie ist das Muster
dessen, was man in der Gesellschaft ein gebildetes Mädchen ^nennt, ein
Mädchen, mit dem man sich unterhalten kann. In diese geistreiche
Familie war ich zu Fastnacht geladen. Ich fand eine sehr zahlreiche
Gesellschaft und, wie ich vermuthet hatte, auch Herrn Felir mit sei¬
ner Familie. Ich hatte ihn seit jener Begebenheit nicht gesehen; er
kam mir etwas scheu mit seiner gewohnten Gutmüthigkeit entgegen,
vermied es aber natürlich ganz, von unserem neulichen Zusammen¬
treffen zu sprechen. Agnes strich an uns vorüber- Ich habe Ihnen
Ihr Buch wieder zurückgeschickt, sagte sie zu Felir. Fast bin ich böse
auf Sie, das; Sie mich mit so undelicate? Lectüre versorgen, wie Boz
sie in diesen Londoner Skizzen wieder geliefert hat. Dieses Buch
hat mich in meinem Urtheil über Boz neu bestärkt; ich habe es längst
gesagt, er ist kein Dichter, es fehlt ihm jene Delicatesse und Zartheit,
dem feineren Auge zu verbergen, was es nicht ertragen kann. Er
weiß seinen Schilderungen des Lasters und Elends nicht jene ätheri¬
sche Hülle überzuwerfen, die es uns nur ahnen läßt; er hat eine
wahre Freude daran, uns die Zustände des niederen Volks so plump
und gemein zu schildern, wie sie wirklich sind. Während ich mich
in der Wirklichkeit vor dem Hauch dieser Sphären scheue, will ich
auch in einem Buche nicht mit ihm zusammenkommen; das kann nur
Speise für ein höchst ordinäres Publicum sein, eben so wie die
Schriften der Madame Düdevant, die uns gar idealische Schneider¬
und Tischlergesellen als Nomanfiguren vorführt und mit ihren oft


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[0394] Der Hofrath ist nicht blos ein reicher, sondern gilt auch als ein kenntnißreicher Mann. Er hat in der Gesellschaft den Ruf als Freund und Beförderer der Wissenschaften und Künste, und versammelt in seinem Salon die meisten, besonders jüngere Notabilitäten, die sich, zu seinem größten Stolze, bemühen, der Bildung und dem Geschmack seiner Tochter in enthusiastischer Weise zu huldigen. Agnes verdient in der That in der guten Gesellschaft den Namen eines geistreichen ^. ädchens, denn sie spricht sehr gut Französisch und Englisch, spielt vortrefflich Klavier, sieht sehr bleich und interessant aus, macht höchst geschmackvolle Toilette, hat Jean Paul und Goethe gelesen und sich von ihrem Papa den Faust erklären lassen, hat sich auch mit dessen Hauptsteckenpferd, der italienischen Poesie, vielfach beschäftigt, unter¬ hält sich am Liebsten mit jungen Gelehrten und Künstlern, liest alle neuen Romane, schwärmt für die Paalzow, kurz sie ist das Muster dessen, was man in der Gesellschaft ein gebildetes Mädchen ^nennt, ein Mädchen, mit dem man sich unterhalten kann. In diese geistreiche Familie war ich zu Fastnacht geladen. Ich fand eine sehr zahlreiche Gesellschaft und, wie ich vermuthet hatte, auch Herrn Felir mit sei¬ ner Familie. Ich hatte ihn seit jener Begebenheit nicht gesehen; er kam mir etwas scheu mit seiner gewohnten Gutmüthigkeit entgegen, vermied es aber natürlich ganz, von unserem neulichen Zusammen¬ treffen zu sprechen. Agnes strich an uns vorüber- Ich habe Ihnen Ihr Buch wieder zurückgeschickt, sagte sie zu Felir. Fast bin ich böse auf Sie, das; Sie mich mit so undelicate? Lectüre versorgen, wie Boz sie in diesen Londoner Skizzen wieder geliefert hat. Dieses Buch hat mich in meinem Urtheil über Boz neu bestärkt; ich habe es längst gesagt, er ist kein Dichter, es fehlt ihm jene Delicatesse und Zartheit, dem feineren Auge zu verbergen, was es nicht ertragen kann. Er weiß seinen Schilderungen des Lasters und Elends nicht jene ätheri¬ sche Hülle überzuwerfen, die es uns nur ahnen läßt; er hat eine wahre Freude daran, uns die Zustände des niederen Volks so plump und gemein zu schildern, wie sie wirklich sind. Während ich mich in der Wirklichkeit vor dem Hauch dieser Sphären scheue, will ich auch in einem Buche nicht mit ihm zusammenkommen; das kann nur Speise für ein höchst ordinäres Publicum sein, eben so wie die Schriften der Madame Düdevant, die uns gar idealische Schneider¬ und Tischlergesellen als Nomanfiguren vorführt und mit ihren oft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/394>, abgerufen am 22.12.2024.