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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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weile, einen ganzen, langen Abend so allein zu sitzen, vernachlässigt
den Kirchenbesuch, knüpft eine Liebschaft mit einem Schreiber an und
prügelt sich des Nachts auf dem Hausflur mit einer alten Frau.
Ich muß sagen, daß ich, seitdem ich an jenem Morgen ihre unordent¬
liche Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, ihr auffahrendes Wesen be¬
merkte, allen Glauben verloren habe, daß überhaupt aus dieser
Mädchenclasse, nicht etwa die feinen Damen unsrer noblen Gesellschaft,
nein, daß nur so ordentliche Mädchen aus ihr hervorgehen können,
wie wir sie unter den Bürger- und Handwerkertöchtern finden. So
tritt das Mädchen, deren Glück ich begründet, mir keck und selb¬
ständig entgegen, wagt zu gähnen, während ich ihr gute Lehren gebe,
und sagt, das sei so langweilig wie eine Nachmittagspredigt, sie
wolle das nicht hören, ich solle lieber einmal daran denken, ihr eine
kleine Zerstreuung zu machen. Ich habe ohnedies durch meine jetzt
erfolgte Anstellung als Assessor so viel neue und anstrengende Be¬
schäftigung erhalten, daß eS mir unmöglich ist, mich weiter um sie
zu kümmern, es hat mir Geld genug gekostet, ihr Handarbeiten
lehren zu lassen, sie muß nun endlich anfangen für sich selber zu
sorgen; darauf habe ich sie von Anfang angewiesen.

"Ich war es mir selber schuldig, Sie mit dieser langen Geschichte
zu ennuyren. Ich vertraue Ihnen dieselbe als ein tiefes Geheimniß
an und bitte Sie nur noch, wo und wann Sie mir auch begegnen
mögen, nie diese Affaire zu erwähnen. Die Erinnerung daran würde
nur den Schmerz über die Undankbarkeit der Menschen von Neuem
in mir erwecken."

An demselben Tage erhielt auch Mathilde einen Brief mit dem
Gelde für die Rechnung des laufenden Monats. Ihr Felir schrieb
ihr, daß er die Bekanntschaft mit ihr aufgeben müsse, da seine bal¬
dige Abreise von hier ihn ohnedies von ihrer Seite reißen würde.
Er hoffe, daß sie in den Handarbeiten geschickt genug sei, um seine
fernere Unterstützung entbehren zu können. Sie solle ordentlich und
fleißig sein und seiner guten Lehren gedenken, dann werde ihr der
liebe Gott schon seinen Segen geben. Uebrigens müsse er sich alle
weitern Briefe oder etwaigen Besuche von ihrer Seite verbitten, da
er bei seinen Eltern wohne. Er habe dem Bedienten schon strenge
Ordre gegeben, sie niemals vorzulassen.

Der gute, wohlthätige Jüngling, das sanfte, weiche Herz! Was


Grenzboten II. 45

weile, einen ganzen, langen Abend so allein zu sitzen, vernachlässigt
den Kirchenbesuch, knüpft eine Liebschaft mit einem Schreiber an und
prügelt sich des Nachts auf dem Hausflur mit einer alten Frau.
Ich muß sagen, daß ich, seitdem ich an jenem Morgen ihre unordent¬
liche Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, ihr auffahrendes Wesen be¬
merkte, allen Glauben verloren habe, daß überhaupt aus dieser
Mädchenclasse, nicht etwa die feinen Damen unsrer noblen Gesellschaft,
nein, daß nur so ordentliche Mädchen aus ihr hervorgehen können,
wie wir sie unter den Bürger- und Handwerkertöchtern finden. So
tritt das Mädchen, deren Glück ich begründet, mir keck und selb¬
ständig entgegen, wagt zu gähnen, während ich ihr gute Lehren gebe,
und sagt, das sei so langweilig wie eine Nachmittagspredigt, sie
wolle das nicht hören, ich solle lieber einmal daran denken, ihr eine
kleine Zerstreuung zu machen. Ich habe ohnedies durch meine jetzt
erfolgte Anstellung als Assessor so viel neue und anstrengende Be¬
schäftigung erhalten, daß eS mir unmöglich ist, mich weiter um sie
zu kümmern, es hat mir Geld genug gekostet, ihr Handarbeiten
lehren zu lassen, sie muß nun endlich anfangen für sich selber zu
sorgen; darauf habe ich sie von Anfang angewiesen.

„Ich war es mir selber schuldig, Sie mit dieser langen Geschichte
zu ennuyren. Ich vertraue Ihnen dieselbe als ein tiefes Geheimniß
an und bitte Sie nur noch, wo und wann Sie mir auch begegnen
mögen, nie diese Affaire zu erwähnen. Die Erinnerung daran würde
nur den Schmerz über die Undankbarkeit der Menschen von Neuem
in mir erwecken."

An demselben Tage erhielt auch Mathilde einen Brief mit dem
Gelde für die Rechnung des laufenden Monats. Ihr Felir schrieb
ihr, daß er die Bekanntschaft mit ihr aufgeben müsse, da seine bal¬
dige Abreise von hier ihn ohnedies von ihrer Seite reißen würde.
Er hoffe, daß sie in den Handarbeiten geschickt genug sei, um seine
fernere Unterstützung entbehren zu können. Sie solle ordentlich und
fleißig sein und seiner guten Lehren gedenken, dann werde ihr der
liebe Gott schon seinen Segen geben. Uebrigens müsse er sich alle
weitern Briefe oder etwaigen Besuche von ihrer Seite verbitten, da
er bei seinen Eltern wohne. Er habe dem Bedienten schon strenge
Ordre gegeben, sie niemals vorzulassen.

Der gute, wohlthätige Jüngling, das sanfte, weiche Herz! Was


Grenzboten II. 45
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[0361] weile, einen ganzen, langen Abend so allein zu sitzen, vernachlässigt den Kirchenbesuch, knüpft eine Liebschaft mit einem Schreiber an und prügelt sich des Nachts auf dem Hausflur mit einer alten Frau. Ich muß sagen, daß ich, seitdem ich an jenem Morgen ihre unordent¬ liche Toilette, ihr zerkratztes Gesicht, ihr auffahrendes Wesen be¬ merkte, allen Glauben verloren habe, daß überhaupt aus dieser Mädchenclasse, nicht etwa die feinen Damen unsrer noblen Gesellschaft, nein, daß nur so ordentliche Mädchen aus ihr hervorgehen können, wie wir sie unter den Bürger- und Handwerkertöchtern finden. So tritt das Mädchen, deren Glück ich begründet, mir keck und selb¬ ständig entgegen, wagt zu gähnen, während ich ihr gute Lehren gebe, und sagt, das sei so langweilig wie eine Nachmittagspredigt, sie wolle das nicht hören, ich solle lieber einmal daran denken, ihr eine kleine Zerstreuung zu machen. Ich habe ohnedies durch meine jetzt erfolgte Anstellung als Assessor so viel neue und anstrengende Be¬ schäftigung erhalten, daß eS mir unmöglich ist, mich weiter um sie zu kümmern, es hat mir Geld genug gekostet, ihr Handarbeiten lehren zu lassen, sie muß nun endlich anfangen für sich selber zu sorgen; darauf habe ich sie von Anfang angewiesen. „Ich war es mir selber schuldig, Sie mit dieser langen Geschichte zu ennuyren. Ich vertraue Ihnen dieselbe als ein tiefes Geheimniß an und bitte Sie nur noch, wo und wann Sie mir auch begegnen mögen, nie diese Affaire zu erwähnen. Die Erinnerung daran würde nur den Schmerz über die Undankbarkeit der Menschen von Neuem in mir erwecken." An demselben Tage erhielt auch Mathilde einen Brief mit dem Gelde für die Rechnung des laufenden Monats. Ihr Felir schrieb ihr, daß er die Bekanntschaft mit ihr aufgeben müsse, da seine bal¬ dige Abreise von hier ihn ohnedies von ihrer Seite reißen würde. Er hoffe, daß sie in den Handarbeiten geschickt genug sei, um seine fernere Unterstützung entbehren zu können. Sie solle ordentlich und fleißig sein und seiner guten Lehren gedenken, dann werde ihr der liebe Gott schon seinen Segen geben. Uebrigens müsse er sich alle weitern Briefe oder etwaigen Besuche von ihrer Seite verbitten, da er bei seinen Eltern wohne. Er habe dem Bedienten schon strenge Ordre gegeben, sie niemals vorzulassen. Der gute, wohlthätige Jüngling, das sanfte, weiche Herz! Was Grenzboten II. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/361>, abgerufen am 23.07.2024.