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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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war ihm die Armuth, der er aufhelfen, die er civilisiren wollte? Er
verstand sie nicht, weder die ungezwungene Natürlichkeit, die sie er¬
zeugt, noch die Rohheit und den Schmutz, der aus ihr hervorgeht;
er wollte sie nur demüthig winselnd, mit bettelnden, thränenden Au¬
gen sehen. Ihr NichtVorhandensein hätte ihn um ein Vergnügen är¬
mer gemacht, sie war ihm eine romantische Spielerei, er interessirte
sich für sie, wie er sich sür die Romane von Boz und für die "Ge¬
heimnisse von Paris" interessirte. Hörte sie auf, einen romantischen
Anstrich zu haben, trat sie ihm mit ihren Consequenzen in der Wirk¬
lichkeit entgegen, so schauderte er zusammen und zog sich zurück, als
habe er sich die Finger beschmutzt. Und vollends sein Mitgefühl mit
der reizend-schönen Mathilde, das jetzt so klar und unzweideutig vor
mir lag! --

Mathilde war in rasender Verzweiflung. Denn in der That,
was sollte sie um anfangen, nachdem sie zwei Jahre lang im Ge¬
nuß eines ruhigen, sorgenlosen Lebens die Noth der "niederen Sphäre"
vergessen und die Freuden der höheren ahnen gelernt hatte? Hand¬
arbeiten verstehen ist zwar für ein junges Mädchen sehr gut, sich aber
in einer großen Stadt, bei gänzlichem Mangel an aller Bekanntschaft
und Empfehlung, plötzlich ganz und gar davon ernähren zu wollen,
ein schwieriges Unternehmen. Uebrigens war sie von Felix, wie sie
mir sagte, durchaus nicht darauf hingewiesen worden, er hatte früher
immer nur von den Gesellschaften gesprochen, in die er sie später zu
bringen gedächte. Der Schreiber, der unterdeß der Guitarrespielerin
den Hof gemacht, und ihr zur Belustigung des Herrn Alir in alle
Wein- und Bierstuben gefolgt war -- von wo ich ihn auch in je¬
ner Nacht mit ihr zurückkommen sah -- wandte sich jetzt wieder hoff¬
nungsvoll Mathilden zu und bot ihr seine Hilfe an. Trotz seiner
schmachtenden Blicke und unzähligen Bücklinge wies sie ihn aber stolz
zurück, er solle sich fortpacken. Wohin sollte sie nun? Ihre Eltern
waren gestorben, ihre Geschwister schon vorher auf der Straße beim
Betteln ertappt und in die Wadzecksanstalt gebracht worden. Endlich
weckte sie der alte Herr, dem sie ihre Lage geklagt hatte, eines Nachts
mit der frohen Nachricht aus dem Bette, daß er ihr eine Stelle als
Mamsell in dem kleinen Conditorladen verschafft habe. Hoch erfreut
stellte sie sich noch an demselben Morgen bei dem Conditor vor,
Tags darauf zog sie ein. O Felir, was für ein Mann Du bist!


war ihm die Armuth, der er aufhelfen, die er civilisiren wollte? Er
verstand sie nicht, weder die ungezwungene Natürlichkeit, die sie er¬
zeugt, noch die Rohheit und den Schmutz, der aus ihr hervorgeht;
er wollte sie nur demüthig winselnd, mit bettelnden, thränenden Au¬
gen sehen. Ihr NichtVorhandensein hätte ihn um ein Vergnügen är¬
mer gemacht, sie war ihm eine romantische Spielerei, er interessirte
sich für sie, wie er sich sür die Romane von Boz und für die „Ge¬
heimnisse von Paris" interessirte. Hörte sie auf, einen romantischen
Anstrich zu haben, trat sie ihm mit ihren Consequenzen in der Wirk¬
lichkeit entgegen, so schauderte er zusammen und zog sich zurück, als
habe er sich die Finger beschmutzt. Und vollends sein Mitgefühl mit
der reizend-schönen Mathilde, das jetzt so klar und unzweideutig vor
mir lag! —

Mathilde war in rasender Verzweiflung. Denn in der That,
was sollte sie um anfangen, nachdem sie zwei Jahre lang im Ge¬
nuß eines ruhigen, sorgenlosen Lebens die Noth der „niederen Sphäre"
vergessen und die Freuden der höheren ahnen gelernt hatte? Hand¬
arbeiten verstehen ist zwar für ein junges Mädchen sehr gut, sich aber
in einer großen Stadt, bei gänzlichem Mangel an aller Bekanntschaft
und Empfehlung, plötzlich ganz und gar davon ernähren zu wollen,
ein schwieriges Unternehmen. Uebrigens war sie von Felix, wie sie
mir sagte, durchaus nicht darauf hingewiesen worden, er hatte früher
immer nur von den Gesellschaften gesprochen, in die er sie später zu
bringen gedächte. Der Schreiber, der unterdeß der Guitarrespielerin
den Hof gemacht, und ihr zur Belustigung des Herrn Alir in alle
Wein- und Bierstuben gefolgt war — von wo ich ihn auch in je¬
ner Nacht mit ihr zurückkommen sah — wandte sich jetzt wieder hoff¬
nungsvoll Mathilden zu und bot ihr seine Hilfe an. Trotz seiner
schmachtenden Blicke und unzähligen Bücklinge wies sie ihn aber stolz
zurück, er solle sich fortpacken. Wohin sollte sie nun? Ihre Eltern
waren gestorben, ihre Geschwister schon vorher auf der Straße beim
Betteln ertappt und in die Wadzecksanstalt gebracht worden. Endlich
weckte sie der alte Herr, dem sie ihre Lage geklagt hatte, eines Nachts
mit der frohen Nachricht aus dem Bette, daß er ihr eine Stelle als
Mamsell in dem kleinen Conditorladen verschafft habe. Hoch erfreut
stellte sie sich noch an demselben Morgen bei dem Conditor vor,
Tags darauf zog sie ein. O Felir, was für ein Mann Du bist!


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[0362] war ihm die Armuth, der er aufhelfen, die er civilisiren wollte? Er verstand sie nicht, weder die ungezwungene Natürlichkeit, die sie er¬ zeugt, noch die Rohheit und den Schmutz, der aus ihr hervorgeht; er wollte sie nur demüthig winselnd, mit bettelnden, thränenden Au¬ gen sehen. Ihr NichtVorhandensein hätte ihn um ein Vergnügen är¬ mer gemacht, sie war ihm eine romantische Spielerei, er interessirte sich für sie, wie er sich sür die Romane von Boz und für die „Ge¬ heimnisse von Paris" interessirte. Hörte sie auf, einen romantischen Anstrich zu haben, trat sie ihm mit ihren Consequenzen in der Wirk¬ lichkeit entgegen, so schauderte er zusammen und zog sich zurück, als habe er sich die Finger beschmutzt. Und vollends sein Mitgefühl mit der reizend-schönen Mathilde, das jetzt so klar und unzweideutig vor mir lag! — Mathilde war in rasender Verzweiflung. Denn in der That, was sollte sie um anfangen, nachdem sie zwei Jahre lang im Ge¬ nuß eines ruhigen, sorgenlosen Lebens die Noth der „niederen Sphäre" vergessen und die Freuden der höheren ahnen gelernt hatte? Hand¬ arbeiten verstehen ist zwar für ein junges Mädchen sehr gut, sich aber in einer großen Stadt, bei gänzlichem Mangel an aller Bekanntschaft und Empfehlung, plötzlich ganz und gar davon ernähren zu wollen, ein schwieriges Unternehmen. Uebrigens war sie von Felix, wie sie mir sagte, durchaus nicht darauf hingewiesen worden, er hatte früher immer nur von den Gesellschaften gesprochen, in die er sie später zu bringen gedächte. Der Schreiber, der unterdeß der Guitarrespielerin den Hof gemacht, und ihr zur Belustigung des Herrn Alir in alle Wein- und Bierstuben gefolgt war — von wo ich ihn auch in je¬ ner Nacht mit ihr zurückkommen sah — wandte sich jetzt wieder hoff¬ nungsvoll Mathilden zu und bot ihr seine Hilfe an. Trotz seiner schmachtenden Blicke und unzähligen Bücklinge wies sie ihn aber stolz zurück, er solle sich fortpacken. Wohin sollte sie nun? Ihre Eltern waren gestorben, ihre Geschwister schon vorher auf der Straße beim Betteln ertappt und in die Wadzecksanstalt gebracht worden. Endlich weckte sie der alte Herr, dem sie ihre Lage geklagt hatte, eines Nachts mit der frohen Nachricht aus dem Bette, daß er ihr eine Stelle als Mamsell in dem kleinen Conditorladen verschafft habe. Hoch erfreut stellte sie sich noch an demselben Morgen bei dem Conditor vor, Tags darauf zog sie ein. O Felir, was für ein Mann Du bist!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/362>, abgerufen am 22.12.2024.