Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

auf ihr Zimmer verwiesen, von den Hausbewohnern aber nicht gerade auf
das Nobelste tractirt und eine besoffene Canaille u. s. w. genannt wurde.
Der Strom verlief sich, man kroch wieder in die Winkel, stieg die
Treppen wieder hinauf, die Thüren wurden verschlossen, es war bald
wieder ganz still in dem kleinen Hause mit seiner sonderbaren, ge¬
schäftigen Bewohnerschaft Ich war wieder allein in meinem Zim¬
mer und dachte eben noch über das Räthsel nach, wie denn diese
Mathilde, von der ich noch gar Nichts gehört und gesehen hatte, in
so später Nacht noch drei Treppen herunter und mit der Alten zu¬
sammengekommen sei, als ich leise an meiner Thüre pochen hörte.
Ich beschloß, nicht zu öffnen, aus Furcht, es sei die Nachtwandlerin,
doch das Pochen wiederholte sich zwei, drei, vier Mal, ich ging
öffnen. Vor mir stand Mathilde, noch immer leichenblaß, das Ge¬
sicht zerkratzt und blutig, Haar und Kleidung aber so ziemlich wieder
geordnet. Ich wollte hier im Hause, sagte sie, nach meinem Stirn¬
band suchen -- das schöne Stirnband, die Alte hat es mir gewiß
genommen! -- da sehe ich bei Ihnen noch Licht. An allen den Leu¬
ten hier im Hause ist mir Nichts gelegen, gar Nichts,' die können
Alle von mir denken, was sie Lust haben; bei Ihnen aber, der Sie
mich nicht kennen und die Geschichte zuerst mit angesehen haben, will
ich mich vertheidigen. Unter diesen Worten war sie näher getreten,
warf sich, ohne daß ich sie vorher darum gebeten hatte, auf das
Sopha, putzte mit einem überaus zarten, feinen Händchen die beiden
Lichter auf dem Tische, lehnte sich bequem in den Winkel und be¬
gann: Alle die Leute, die Sie vorhin gesehen haben, fand ich schon
im vorigen Sommer hier im Hause vor, als ich die Stube drei
Treppen hoch vorn heraus bezog. Ich komme aber mit Keinem
zusammen und weiß nur, daß die Wirthsleute für mich gerade die
größten Rechnungen schreiben. Mein nächster Nachbar ist der alte
Herr mit den weißen Locken; er spricht manchmal mit mir und scheint
mir ein gar freundlicher, lieber Mann zu sein. Doch kenne ich ihn
auch nicht weiter, denn er ist nur höchst selten einmal zu sehen. Den
ganzen Tag sitzt er und schreibt und schreibt, und Abends gegen eilf
Uhr kleidet er sich erst an, um auszugeben. Die Wirthin sagt mir,
sie wisse gar nicht, wie er sich so erhalte, denn die ganze Woche, den
Sonntag ausgenommen, wo er bei einem Verwandten zu Tische ist,
genießt er Nichts, als drei Mal täglich Kaffee und Butterbrod. Wo


auf ihr Zimmer verwiesen, von den Hausbewohnern aber nicht gerade auf
das Nobelste tractirt und eine besoffene Canaille u. s. w. genannt wurde.
Der Strom verlief sich, man kroch wieder in die Winkel, stieg die
Treppen wieder hinauf, die Thüren wurden verschlossen, es war bald
wieder ganz still in dem kleinen Hause mit seiner sonderbaren, ge¬
schäftigen Bewohnerschaft Ich war wieder allein in meinem Zim¬
mer und dachte eben noch über das Räthsel nach, wie denn diese
Mathilde, von der ich noch gar Nichts gehört und gesehen hatte, in
so später Nacht noch drei Treppen herunter und mit der Alten zu¬
sammengekommen sei, als ich leise an meiner Thüre pochen hörte.
Ich beschloß, nicht zu öffnen, aus Furcht, es sei die Nachtwandlerin,
doch das Pochen wiederholte sich zwei, drei, vier Mal, ich ging
öffnen. Vor mir stand Mathilde, noch immer leichenblaß, das Ge¬
sicht zerkratzt und blutig, Haar und Kleidung aber so ziemlich wieder
geordnet. Ich wollte hier im Hause, sagte sie, nach meinem Stirn¬
band suchen — das schöne Stirnband, die Alte hat es mir gewiß
genommen! — da sehe ich bei Ihnen noch Licht. An allen den Leu¬
ten hier im Hause ist mir Nichts gelegen, gar Nichts,' die können
Alle von mir denken, was sie Lust haben; bei Ihnen aber, der Sie
mich nicht kennen und die Geschichte zuerst mit angesehen haben, will
ich mich vertheidigen. Unter diesen Worten war sie näher getreten,
warf sich, ohne daß ich sie vorher darum gebeten hatte, auf das
Sopha, putzte mit einem überaus zarten, feinen Händchen die beiden
Lichter auf dem Tische, lehnte sich bequem in den Winkel und be¬
gann: Alle die Leute, die Sie vorhin gesehen haben, fand ich schon
im vorigen Sommer hier im Hause vor, als ich die Stube drei
Treppen hoch vorn heraus bezog. Ich komme aber mit Keinem
zusammen und weiß nur, daß die Wirthsleute für mich gerade die
größten Rechnungen schreiben. Mein nächster Nachbar ist der alte
Herr mit den weißen Locken; er spricht manchmal mit mir und scheint
mir ein gar freundlicher, lieber Mann zu sein. Doch kenne ich ihn
auch nicht weiter, denn er ist nur höchst selten einmal zu sehen. Den
ganzen Tag sitzt er und schreibt und schreibt, und Abends gegen eilf
Uhr kleidet er sich erst an, um auszugeben. Die Wirthin sagt mir,
sie wisse gar nicht, wie er sich so erhalte, denn die ganze Woche, den
Sonntag ausgenommen, wo er bei einem Verwandten zu Tische ist,
genießt er Nichts, als drei Mal täglich Kaffee und Butterbrod. Wo


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180911"/>
              <p xml:id="ID_839" prev="#ID_838" next="#ID_840"> auf ihr Zimmer verwiesen, von den Hausbewohnern aber nicht gerade auf<lb/>
das Nobelste tractirt und eine besoffene Canaille u. s. w. genannt wurde.<lb/>
Der Strom verlief sich, man kroch wieder in die Winkel, stieg die<lb/>
Treppen wieder hinauf, die Thüren wurden verschlossen, es war bald<lb/>
wieder ganz still in dem kleinen Hause mit seiner sonderbaren, ge¬<lb/>
schäftigen Bewohnerschaft Ich war wieder allein in meinem Zim¬<lb/>
mer und dachte eben noch über das Räthsel nach, wie denn diese<lb/>
Mathilde, von der ich noch gar Nichts gehört und gesehen hatte, in<lb/>
so später Nacht noch drei Treppen herunter und mit der Alten zu¬<lb/>
sammengekommen sei, als ich leise an meiner Thüre pochen hörte.<lb/>
Ich beschloß, nicht zu öffnen, aus Furcht, es sei die Nachtwandlerin,<lb/>
doch das Pochen wiederholte sich zwei, drei, vier Mal, ich ging<lb/>
öffnen. Vor mir stand Mathilde, noch immer leichenblaß, das Ge¬<lb/>
sicht zerkratzt und blutig, Haar und Kleidung aber so ziemlich wieder<lb/>
geordnet. Ich wollte hier im Hause, sagte sie, nach meinem Stirn¬<lb/>
band suchen &#x2014; das schöne Stirnband, die Alte hat es mir gewiß<lb/>
genommen! &#x2014; da sehe ich bei Ihnen noch Licht. An allen den Leu¬<lb/>
ten hier im Hause ist mir Nichts gelegen, gar Nichts,' die können<lb/>
Alle von mir denken, was sie Lust haben; bei Ihnen aber, der Sie<lb/>
mich nicht kennen und die Geschichte zuerst mit angesehen haben, will<lb/>
ich mich vertheidigen. Unter diesen Worten war sie näher getreten,<lb/>
warf sich, ohne daß ich sie vorher darum gebeten hatte, auf das<lb/>
Sopha, putzte mit einem überaus zarten, feinen Händchen die beiden<lb/>
Lichter auf dem Tische, lehnte sich bequem in den Winkel und be¬<lb/>
gann: Alle die Leute, die Sie vorhin gesehen haben, fand ich schon<lb/>
im vorigen Sommer hier im Hause vor, als ich die Stube drei<lb/>
Treppen hoch vorn heraus bezog. Ich komme aber mit Keinem<lb/>
zusammen und weiß nur, daß die Wirthsleute für mich gerade die<lb/>
größten Rechnungen schreiben. Mein nächster Nachbar ist der alte<lb/>
Herr mit den weißen Locken; er spricht manchmal mit mir und scheint<lb/>
mir ein gar freundlicher, lieber Mann zu sein. Doch kenne ich ihn<lb/>
auch nicht weiter, denn er ist nur höchst selten einmal zu sehen. Den<lb/>
ganzen Tag sitzt er und schreibt und schreibt, und Abends gegen eilf<lb/>
Uhr kleidet er sich erst an, um auszugeben. Die Wirthin sagt mir,<lb/>
sie wisse gar nicht, wie er sich so erhalte, denn die ganze Woche, den<lb/>
Sonntag ausgenommen, wo er bei einem Verwandten zu Tische ist,<lb/>
genießt er Nichts, als drei Mal täglich Kaffee und Butterbrod. Wo</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0352] auf ihr Zimmer verwiesen, von den Hausbewohnern aber nicht gerade auf das Nobelste tractirt und eine besoffene Canaille u. s. w. genannt wurde. Der Strom verlief sich, man kroch wieder in die Winkel, stieg die Treppen wieder hinauf, die Thüren wurden verschlossen, es war bald wieder ganz still in dem kleinen Hause mit seiner sonderbaren, ge¬ schäftigen Bewohnerschaft Ich war wieder allein in meinem Zim¬ mer und dachte eben noch über das Räthsel nach, wie denn diese Mathilde, von der ich noch gar Nichts gehört und gesehen hatte, in so später Nacht noch drei Treppen herunter und mit der Alten zu¬ sammengekommen sei, als ich leise an meiner Thüre pochen hörte. Ich beschloß, nicht zu öffnen, aus Furcht, es sei die Nachtwandlerin, doch das Pochen wiederholte sich zwei, drei, vier Mal, ich ging öffnen. Vor mir stand Mathilde, noch immer leichenblaß, das Ge¬ sicht zerkratzt und blutig, Haar und Kleidung aber so ziemlich wieder geordnet. Ich wollte hier im Hause, sagte sie, nach meinem Stirn¬ band suchen — das schöne Stirnband, die Alte hat es mir gewiß genommen! — da sehe ich bei Ihnen noch Licht. An allen den Leu¬ ten hier im Hause ist mir Nichts gelegen, gar Nichts,' die können Alle von mir denken, was sie Lust haben; bei Ihnen aber, der Sie mich nicht kennen und die Geschichte zuerst mit angesehen haben, will ich mich vertheidigen. Unter diesen Worten war sie näher getreten, warf sich, ohne daß ich sie vorher darum gebeten hatte, auf das Sopha, putzte mit einem überaus zarten, feinen Händchen die beiden Lichter auf dem Tische, lehnte sich bequem in den Winkel und be¬ gann: Alle die Leute, die Sie vorhin gesehen haben, fand ich schon im vorigen Sommer hier im Hause vor, als ich die Stube drei Treppen hoch vorn heraus bezog. Ich komme aber mit Keinem zusammen und weiß nur, daß die Wirthsleute für mich gerade die größten Rechnungen schreiben. Mein nächster Nachbar ist der alte Herr mit den weißen Locken; er spricht manchmal mit mir und scheint mir ein gar freundlicher, lieber Mann zu sein. Doch kenne ich ihn auch nicht weiter, denn er ist nur höchst selten einmal zu sehen. Den ganzen Tag sitzt er und schreibt und schreibt, und Abends gegen eilf Uhr kleidet er sich erst an, um auszugeben. Die Wirthin sagt mir, sie wisse gar nicht, wie er sich so erhalte, denn die ganze Woche, den Sonntag ausgenommen, wo er bei einem Verwandten zu Tische ist, genießt er Nichts, als drei Mal täglich Kaffee und Butterbrod. Wo

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/352
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/352>, abgerufen am 23.07.2024.