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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Bemerkungen
über Hegel sche Philosophie, von einem Apostaten.



Zweiter Artikel.

Man hat wohl hie und da im Leben Momente, da man an
Erfindung der tollsten und aberwitzigsten Unmöglichkeiten sein Ergöz-
zen hat, da man in süßer Trunkenheit dem regellosen Spiele der
Phantasie sich hingibt. Man umfliegt die ganze Erde, ohne doch
deshalb von der Stelle zu kommen. Man ist allwissend, ohne im
Mindesten dazu gethan zu haben, und was dergleichen geistreiche und
nicht geistreiche Phantastereien mehr sind. Aber man sollte doch wohl nicht
meinen, daß es je Einem eingefallen, die Gebilde solch müßiger Stun¬
den in ein System zu pressen und diese systematische Narrheit der
Welt als Ergebniß eines tiefen und eindringenden Forschens aufzu¬
tischen. Man irrt. Die speculative Philosophie hat diesen Beitrag
zur Menschenkunde geliefert. Wenn in Predigten und Romanen Flos¬
keln, wie Erhabenheit über Zeit und Raum und tgi. sattsam und bis
zum Ekel ausgebeutet werden, so will dies wenig besagen; -- wenn
aber das philosophische Denken gerade da am allermeisten sich aus¬
spreizt, wo in der That am allerwenigsten sich denken läßt, so ist
dies eine wunderliche Selbstironie. Mag sein -- eine unbewußte.
Die Kirche hat das Wunder in die Welt gesetzt; aber sie war doch
ehrlich genug, dies offen zu künden und geradezu alle Vernunft von
sich abzuweisen. liittio est avec": das war ein klarer Satz; und man
wußte, was man zu thun und zu lassen hatte. Ganz anders die
Philosophie. Wenn sie aus selbstgefälliger Prahlerei der Vernunft zu¬
rief, die langverschlossenen Augen zu öffnen, so versetzte sie dieselbe
doch sogleich in die nächtigen Regionen des Undenkbaren, darin sie


Bemerkungen
über Hegel sche Philosophie, von einem Apostaten.



Zweiter Artikel.

Man hat wohl hie und da im Leben Momente, da man an
Erfindung der tollsten und aberwitzigsten Unmöglichkeiten sein Ergöz-
zen hat, da man in süßer Trunkenheit dem regellosen Spiele der
Phantasie sich hingibt. Man umfliegt die ganze Erde, ohne doch
deshalb von der Stelle zu kommen. Man ist allwissend, ohne im
Mindesten dazu gethan zu haben, und was dergleichen geistreiche und
nicht geistreiche Phantastereien mehr sind. Aber man sollte doch wohl nicht
meinen, daß es je Einem eingefallen, die Gebilde solch müßiger Stun¬
den in ein System zu pressen und diese systematische Narrheit der
Welt als Ergebniß eines tiefen und eindringenden Forschens aufzu¬
tischen. Man irrt. Die speculative Philosophie hat diesen Beitrag
zur Menschenkunde geliefert. Wenn in Predigten und Romanen Flos¬
keln, wie Erhabenheit über Zeit und Raum und tgi. sattsam und bis
zum Ekel ausgebeutet werden, so will dies wenig besagen; — wenn
aber das philosophische Denken gerade da am allermeisten sich aus¬
spreizt, wo in der That am allerwenigsten sich denken läßt, so ist
dies eine wunderliche Selbstironie. Mag sein — eine unbewußte.
Die Kirche hat das Wunder in die Welt gesetzt; aber sie war doch
ehrlich genug, dies offen zu künden und geradezu alle Vernunft von
sich abzuweisen. liittio est avec»: das war ein klarer Satz; und man
wußte, was man zu thun und zu lassen hatte. Ganz anders die
Philosophie. Wenn sie aus selbstgefälliger Prahlerei der Vernunft zu¬
rief, die langverschlossenen Augen zu öffnen, so versetzte sie dieselbe
doch sogleich in die nächtigen Regionen des Undenkbaren, darin sie


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[0114] Bemerkungen über Hegel sche Philosophie, von einem Apostaten. Zweiter Artikel. Man hat wohl hie und da im Leben Momente, da man an Erfindung der tollsten und aberwitzigsten Unmöglichkeiten sein Ergöz- zen hat, da man in süßer Trunkenheit dem regellosen Spiele der Phantasie sich hingibt. Man umfliegt die ganze Erde, ohne doch deshalb von der Stelle zu kommen. Man ist allwissend, ohne im Mindesten dazu gethan zu haben, und was dergleichen geistreiche und nicht geistreiche Phantastereien mehr sind. Aber man sollte doch wohl nicht meinen, daß es je Einem eingefallen, die Gebilde solch müßiger Stun¬ den in ein System zu pressen und diese systematische Narrheit der Welt als Ergebniß eines tiefen und eindringenden Forschens aufzu¬ tischen. Man irrt. Die speculative Philosophie hat diesen Beitrag zur Menschenkunde geliefert. Wenn in Predigten und Romanen Flos¬ keln, wie Erhabenheit über Zeit und Raum und tgi. sattsam und bis zum Ekel ausgebeutet werden, so will dies wenig besagen; — wenn aber das philosophische Denken gerade da am allermeisten sich aus¬ spreizt, wo in der That am allerwenigsten sich denken läßt, so ist dies eine wunderliche Selbstironie. Mag sein — eine unbewußte. Die Kirche hat das Wunder in die Welt gesetzt; aber sie war doch ehrlich genug, dies offen zu künden und geradezu alle Vernunft von sich abzuweisen. liittio est avec»: das war ein klarer Satz; und man wußte, was man zu thun und zu lassen hatte. Ganz anders die Philosophie. Wenn sie aus selbstgefälliger Prahlerei der Vernunft zu¬ rief, die langverschlossenen Augen zu öffnen, so versetzte sie dieselbe doch sogleich in die nächtigen Regionen des Undenkbaren, darin sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/114>, abgerufen am 23.07.2024.