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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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ist. Nur die Chinesen malen Licht ohne Schatten; was bis jetzt
Geschichtliches unter österreichischer Censur erschien, ist echt chinesisch.


IV.
Notizen.

Russisches Paradies. -- Chinoiserie. -- Ein interessantes Inserat. -- Brieflich
aus Sruttgart. -- Dialogische Lehrmethode. -- Neue Logik. -- Judensturm --
Der verabschiedete Lanzenrnecht.

-- Das russische Paradies ist offenbar Sibirien. Denn will man
den halb oder ganz officiellen russischen Autoren wie Gretsch, Tolstoi
:c. glauben, so ist es ein Land, wo Milch und Honig fließt, und man
muß sich nur wundern, daß Verbrecher in so elvsische Gegenden ver¬
wiesen werden; andererseits ist dafür gesorgt, daß die Bewohner die¬
ser Strafkolonien blos Glück und Zufriedenheit athmende Briefe (durch
den Gouverneur) nach Hause schreiben. Klagen werden durch diese
Seufzercensur unmöglich gemacht und, wenn man sie versucht, hart
bestraft. Ein ehemaliger Schüler des Warschauer Lyceums, vor sechs
Jahren wegen einer Knabenvcrschwörung exilirt, schrieb -- wie die
Deutsche Allgemeine berichtet -- seinen Eltern, er befinde sich ganz
wohl, habe sich an das Klima bald gewöhnt und wünsche blos seinen
schwarzen Frack, um auf den Ball gehen zu können. Und dieses
Schreiben, dessen verzweifelte Ironie mehr sagt, als alle umständ¬
lichen Details, läßt die sibirische Postcensur passiren. Daraus sieht
man, daß es wirklich dumme Teufel gibt, und daß eine auf die Spitze
getriebene Polizeipsifsigkeit zuletzt in die crasscste Bornirtheit umschlägt.
Als ob diese Zwangslügen nicht mehr als unnütz wären, als ob sie
nicht blos ein böses Gewissen verriethen! Wenn man von der Schuld des
Verwichenen überzeugt ist, wozu seine Lage mit rosenfarbenen Pinsel
malen? Wer erwartet oder verlangt denn, daß ein Verbrecher an sei-
nem Straforte sich glücklich fühlen soll? Das russische Volk nennt
bekanntlich die Verbannten "Unglückliche"; deutet dies vielleicht auf
eine allgemeine Ueberzeugung hin, daß nicht blos Verbrecher verwie¬
sen werden? -- In demselben Sinne sollen die aus Sibirien Erlö¬
sten nicht einmal ihren Eltern, Gatten oder Geschwistern das Min¬
deste über ihren Aufenthalt in der Strafkolonie zu erzählen wagen-
Ist ihnen die Erinnerung so schrecklich, oder haben sie hochnothpein-
liche Rücksichten zu beobachten?

-- Gegenwärtig sitzt in der Berliner Stadtvogtei ein sehr gebil¬
deter junger Mann mir acht bis zehn Sträflingen aus der untersten
Volksklasse in einem Zimmer. Wenn der revioirende Kerkermeister die
Thüre öffnet, muß er sich mit den Andern in Reihe und Glied stel¬
len. Wie kommt das? Ist es ein Revolutionär, den man auf diese


ist. Nur die Chinesen malen Licht ohne Schatten; was bis jetzt
Geschichtliches unter österreichischer Censur erschien, ist echt chinesisch.


IV.
Notizen.

Russisches Paradies. — Chinoiserie. — Ein interessantes Inserat. — Brieflich
aus Sruttgart. — Dialogische Lehrmethode. — Neue Logik. — Judensturm —
Der verabschiedete Lanzenrnecht.

— Das russische Paradies ist offenbar Sibirien. Denn will man
den halb oder ganz officiellen russischen Autoren wie Gretsch, Tolstoi
:c. glauben, so ist es ein Land, wo Milch und Honig fließt, und man
muß sich nur wundern, daß Verbrecher in so elvsische Gegenden ver¬
wiesen werden; andererseits ist dafür gesorgt, daß die Bewohner die¬
ser Strafkolonien blos Glück und Zufriedenheit athmende Briefe (durch
den Gouverneur) nach Hause schreiben. Klagen werden durch diese
Seufzercensur unmöglich gemacht und, wenn man sie versucht, hart
bestraft. Ein ehemaliger Schüler des Warschauer Lyceums, vor sechs
Jahren wegen einer Knabenvcrschwörung exilirt, schrieb — wie die
Deutsche Allgemeine berichtet — seinen Eltern, er befinde sich ganz
wohl, habe sich an das Klima bald gewöhnt und wünsche blos seinen
schwarzen Frack, um auf den Ball gehen zu können. Und dieses
Schreiben, dessen verzweifelte Ironie mehr sagt, als alle umständ¬
lichen Details, läßt die sibirische Postcensur passiren. Daraus sieht
man, daß es wirklich dumme Teufel gibt, und daß eine auf die Spitze
getriebene Polizeipsifsigkeit zuletzt in die crasscste Bornirtheit umschlägt.
Als ob diese Zwangslügen nicht mehr als unnütz wären, als ob sie
nicht blos ein böses Gewissen verriethen! Wenn man von der Schuld des
Verwichenen überzeugt ist, wozu seine Lage mit rosenfarbenen Pinsel
malen? Wer erwartet oder verlangt denn, daß ein Verbrecher an sei-
nem Straforte sich glücklich fühlen soll? Das russische Volk nennt
bekanntlich die Verbannten „Unglückliche"; deutet dies vielleicht auf
eine allgemeine Ueberzeugung hin, daß nicht blos Verbrecher verwie¬
sen werden? — In demselben Sinne sollen die aus Sibirien Erlö¬
sten nicht einmal ihren Eltern, Gatten oder Geschwistern das Min¬
deste über ihren Aufenthalt in der Strafkolonie zu erzählen wagen-
Ist ihnen die Erinnerung so schrecklich, oder haben sie hochnothpein-
liche Rücksichten zu beobachten?

— Gegenwärtig sitzt in der Berliner Stadtvogtei ein sehr gebil¬
deter junger Mann mir acht bis zehn Sträflingen aus der untersten
Volksklasse in einem Zimmer. Wenn der revioirende Kerkermeister die
Thüre öffnet, muß er sich mit den Andern in Reihe und Glied stel¬
len. Wie kommt das? Ist es ein Revolutionär, den man auf diese


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[0705] ist. Nur die Chinesen malen Licht ohne Schatten; was bis jetzt Geschichtliches unter österreichischer Censur erschien, ist echt chinesisch. IV. Notizen. Russisches Paradies. — Chinoiserie. — Ein interessantes Inserat. — Brieflich aus Sruttgart. — Dialogische Lehrmethode. — Neue Logik. — Judensturm — Der verabschiedete Lanzenrnecht. — Das russische Paradies ist offenbar Sibirien. Denn will man den halb oder ganz officiellen russischen Autoren wie Gretsch, Tolstoi :c. glauben, so ist es ein Land, wo Milch und Honig fließt, und man muß sich nur wundern, daß Verbrecher in so elvsische Gegenden ver¬ wiesen werden; andererseits ist dafür gesorgt, daß die Bewohner die¬ ser Strafkolonien blos Glück und Zufriedenheit athmende Briefe (durch den Gouverneur) nach Hause schreiben. Klagen werden durch diese Seufzercensur unmöglich gemacht und, wenn man sie versucht, hart bestraft. Ein ehemaliger Schüler des Warschauer Lyceums, vor sechs Jahren wegen einer Knabenvcrschwörung exilirt, schrieb — wie die Deutsche Allgemeine berichtet — seinen Eltern, er befinde sich ganz wohl, habe sich an das Klima bald gewöhnt und wünsche blos seinen schwarzen Frack, um auf den Ball gehen zu können. Und dieses Schreiben, dessen verzweifelte Ironie mehr sagt, als alle umständ¬ lichen Details, läßt die sibirische Postcensur passiren. Daraus sieht man, daß es wirklich dumme Teufel gibt, und daß eine auf die Spitze getriebene Polizeipsifsigkeit zuletzt in die crasscste Bornirtheit umschlägt. Als ob diese Zwangslügen nicht mehr als unnütz wären, als ob sie nicht blos ein böses Gewissen verriethen! Wenn man von der Schuld des Verwichenen überzeugt ist, wozu seine Lage mit rosenfarbenen Pinsel malen? Wer erwartet oder verlangt denn, daß ein Verbrecher an sei- nem Straforte sich glücklich fühlen soll? Das russische Volk nennt bekanntlich die Verbannten „Unglückliche"; deutet dies vielleicht auf eine allgemeine Ueberzeugung hin, daß nicht blos Verbrecher verwie¬ sen werden? — In demselben Sinne sollen die aus Sibirien Erlö¬ sten nicht einmal ihren Eltern, Gatten oder Geschwistern das Min¬ deste über ihren Aufenthalt in der Strafkolonie zu erzählen wagen- Ist ihnen die Erinnerung so schrecklich, oder haben sie hochnothpein- liche Rücksichten zu beobachten? — Gegenwärtig sitzt in der Berliner Stadtvogtei ein sehr gebil¬ deter junger Mann mir acht bis zehn Sträflingen aus der untersten Volksklasse in einem Zimmer. Wenn der revioirende Kerkermeister die Thüre öffnet, muß er sich mit den Andern in Reihe und Glied stel¬ len. Wie kommt das? Ist es ein Revolutionär, den man auf diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/705>, abgerufen am 01.07.2024.