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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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die Denkwürdigkeiten ihres langen Lebens aufzuzeichnen und thut dies
mit Redlichkeit und Wahrheitsliebe. Zwar bietet ihr eigenes Leben
keine romantischen Ereignisse dar, und sie selber hat auf ihre Zeitum¬
gebung keinen durchdringenden Einfluß gehabt; aber ihre Lebenstage
fallen in die Epoche heftiger Stürme und großer Wandlungen, von
denen sie nicht unberührt bleibt, und so gibt sie uns ein treues Bild,
wie die Geschichte Oesterreichs, von den Zeiten Maria Theresiens ab
bis auf die neuesten, die französische Revolution und der deutsche li¬
terarische Umschwung sich im häuslichen Kreise einer gebildeten Wie¬
ner Familie des Mittelstandes abzeichnen, und welche Ansichten und
Gesinnungen hier jenen Weltbegebenheiten begegnen.

Besonders merkwürdig und dankenswerth dünkt uns Alles, was
gleich zu Anfang aus der nächsten Umgebung Maria Theresiens mit¬
getheilt wird! die große Fürstin, deren ausführliche Regierungsgeschichte
und Biographie noch immer zu wünschen bleibt, erscheint in den ei¬
genthümlichen Zügen, die hier von ihr erzählt werden, ungemein vor¬
theilhaft und so charakteristisch, daß wir gleichsam ihre persönliche Be¬
kanntschaft machen. Auch über Kaiser Joseph empfangen wir manche
Nachricht, die wir mit Eifer seinem historischem Bild eintragen. In
der späteren Zeit kommen die scharfen Züge seltener vor, es verschwimmt
Alles in allgemeiner wohlwollender Bezeichnung. Caroline Pichler
ist eine eifrige Oesterreicherin und getreue Unterthanin, die sich dabei
in der Sphäre ihres Geschlechts und ihres Standes hält, und über
die Staats- und höchste Gesellschaftswclt nur insofern urtheilt, als
diese in ihre Sphäre hineinfällt oder spielt. Dies geschieht indeß oft
genug, und wir sehen eine große Zahl bedeutender Personen an uns
vorüberziehen, z. B. Sonnenfels, Frau von StaA, beide Schlegel,
Dorothea von Schlegel, Adam Müller, Steigentesch, Hormavr und
viele Andere.

Die Verfasserin schrieb im hohen Alter, ohne Leidenschaft, mit
sittlichem Ernst u"i> freundlicher Milde. Sie möchte um's Himmels-
willen Niemand verletzen, sie gedenkt mit Vorliebe des Guten, das sie
wahrgenommen hat, sie wendet sich von dem schlechten ab. Wir ehren
diese Gesinnung, wenn schon dabei die Gefahr nahe liegt, in das Be¬
schränkte, Philisterhafte zu gerathen. Auch ist sich die Verfasserin
dieser Gesinnung etwas zu sehr bewußt und gefällt sich in ihr, im
Gegensatze zu denjenigen Personen, die nicht so sind wie sie. Des¬
wegen können wir uns einer kleinen Schadenfreude nicht erwehren,
wenn bisweilen, bei dem Stolz auf ein so gemäßigtes, ordentliches,
gegen allen Tadel gesichertes Verfahren, die Schärfe und der Unmuth
doch hervorbrechen Und sich Luft machen, wo man es am wenigsten
vermuthet. So kommt es wohl vor, daß noch lebende Personen, oder
in ihren Verhältnissen noch fortlebende verstorbene, bei dieser milden


die Denkwürdigkeiten ihres langen Lebens aufzuzeichnen und thut dies
mit Redlichkeit und Wahrheitsliebe. Zwar bietet ihr eigenes Leben
keine romantischen Ereignisse dar, und sie selber hat auf ihre Zeitum¬
gebung keinen durchdringenden Einfluß gehabt; aber ihre Lebenstage
fallen in die Epoche heftiger Stürme und großer Wandlungen, von
denen sie nicht unberührt bleibt, und so gibt sie uns ein treues Bild,
wie die Geschichte Oesterreichs, von den Zeiten Maria Theresiens ab
bis auf die neuesten, die französische Revolution und der deutsche li¬
terarische Umschwung sich im häuslichen Kreise einer gebildeten Wie¬
ner Familie des Mittelstandes abzeichnen, und welche Ansichten und
Gesinnungen hier jenen Weltbegebenheiten begegnen.

Besonders merkwürdig und dankenswerth dünkt uns Alles, was
gleich zu Anfang aus der nächsten Umgebung Maria Theresiens mit¬
getheilt wird! die große Fürstin, deren ausführliche Regierungsgeschichte
und Biographie noch immer zu wünschen bleibt, erscheint in den ei¬
genthümlichen Zügen, die hier von ihr erzählt werden, ungemein vor¬
theilhaft und so charakteristisch, daß wir gleichsam ihre persönliche Be¬
kanntschaft machen. Auch über Kaiser Joseph empfangen wir manche
Nachricht, die wir mit Eifer seinem historischem Bild eintragen. In
der späteren Zeit kommen die scharfen Züge seltener vor, es verschwimmt
Alles in allgemeiner wohlwollender Bezeichnung. Caroline Pichler
ist eine eifrige Oesterreicherin und getreue Unterthanin, die sich dabei
in der Sphäre ihres Geschlechts und ihres Standes hält, und über
die Staats- und höchste Gesellschaftswclt nur insofern urtheilt, als
diese in ihre Sphäre hineinfällt oder spielt. Dies geschieht indeß oft
genug, und wir sehen eine große Zahl bedeutender Personen an uns
vorüberziehen, z. B. Sonnenfels, Frau von StaA, beide Schlegel,
Dorothea von Schlegel, Adam Müller, Steigentesch, Hormavr und
viele Andere.

Die Verfasserin schrieb im hohen Alter, ohne Leidenschaft, mit
sittlichem Ernst u«i> freundlicher Milde. Sie möchte um's Himmels-
willen Niemand verletzen, sie gedenkt mit Vorliebe des Guten, das sie
wahrgenommen hat, sie wendet sich von dem schlechten ab. Wir ehren
diese Gesinnung, wenn schon dabei die Gefahr nahe liegt, in das Be¬
schränkte, Philisterhafte zu gerathen. Auch ist sich die Verfasserin
dieser Gesinnung etwas zu sehr bewußt und gefällt sich in ihr, im
Gegensatze zu denjenigen Personen, die nicht so sind wie sie. Des¬
wegen können wir uns einer kleinen Schadenfreude nicht erwehren,
wenn bisweilen, bei dem Stolz auf ein so gemäßigtes, ordentliches,
gegen allen Tadel gesichertes Verfahren, die Schärfe und der Unmuth
doch hervorbrechen Und sich Luft machen, wo man es am wenigsten
vermuthet. So kommt es wohl vor, daß noch lebende Personen, oder
in ihren Verhältnissen noch fortlebende verstorbene, bei dieser milden


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[0672] die Denkwürdigkeiten ihres langen Lebens aufzuzeichnen und thut dies mit Redlichkeit und Wahrheitsliebe. Zwar bietet ihr eigenes Leben keine romantischen Ereignisse dar, und sie selber hat auf ihre Zeitum¬ gebung keinen durchdringenden Einfluß gehabt; aber ihre Lebenstage fallen in die Epoche heftiger Stürme und großer Wandlungen, von denen sie nicht unberührt bleibt, und so gibt sie uns ein treues Bild, wie die Geschichte Oesterreichs, von den Zeiten Maria Theresiens ab bis auf die neuesten, die französische Revolution und der deutsche li¬ terarische Umschwung sich im häuslichen Kreise einer gebildeten Wie¬ ner Familie des Mittelstandes abzeichnen, und welche Ansichten und Gesinnungen hier jenen Weltbegebenheiten begegnen. Besonders merkwürdig und dankenswerth dünkt uns Alles, was gleich zu Anfang aus der nächsten Umgebung Maria Theresiens mit¬ getheilt wird! die große Fürstin, deren ausführliche Regierungsgeschichte und Biographie noch immer zu wünschen bleibt, erscheint in den ei¬ genthümlichen Zügen, die hier von ihr erzählt werden, ungemein vor¬ theilhaft und so charakteristisch, daß wir gleichsam ihre persönliche Be¬ kanntschaft machen. Auch über Kaiser Joseph empfangen wir manche Nachricht, die wir mit Eifer seinem historischem Bild eintragen. In der späteren Zeit kommen die scharfen Züge seltener vor, es verschwimmt Alles in allgemeiner wohlwollender Bezeichnung. Caroline Pichler ist eine eifrige Oesterreicherin und getreue Unterthanin, die sich dabei in der Sphäre ihres Geschlechts und ihres Standes hält, und über die Staats- und höchste Gesellschaftswclt nur insofern urtheilt, als diese in ihre Sphäre hineinfällt oder spielt. Dies geschieht indeß oft genug, und wir sehen eine große Zahl bedeutender Personen an uns vorüberziehen, z. B. Sonnenfels, Frau von StaA, beide Schlegel, Dorothea von Schlegel, Adam Müller, Steigentesch, Hormavr und viele Andere. Die Verfasserin schrieb im hohen Alter, ohne Leidenschaft, mit sittlichem Ernst u«i> freundlicher Milde. Sie möchte um's Himmels- willen Niemand verletzen, sie gedenkt mit Vorliebe des Guten, das sie wahrgenommen hat, sie wendet sich von dem schlechten ab. Wir ehren diese Gesinnung, wenn schon dabei die Gefahr nahe liegt, in das Be¬ schränkte, Philisterhafte zu gerathen. Auch ist sich die Verfasserin dieser Gesinnung etwas zu sehr bewußt und gefällt sich in ihr, im Gegensatze zu denjenigen Personen, die nicht so sind wie sie. Des¬ wegen können wir uns einer kleinen Schadenfreude nicht erwehren, wenn bisweilen, bei dem Stolz auf ein so gemäßigtes, ordentliches, gegen allen Tadel gesichertes Verfahren, die Schärfe und der Unmuth doch hervorbrechen Und sich Luft machen, wo man es am wenigsten vermuthet. So kommt es wohl vor, daß noch lebende Personen, oder in ihren Verhältnissen noch fortlebende verstorbene, bei dieser milden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/672>, abgerufen am 01.07.2024.