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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Anschlagzettel sielen mir die Worte auf! unter gütiger Leitung des
Herrn Musikdirektors I- Gungl. Warum "gütig" -- fragte ich Je¬
mand -- erhalt der Mann keine Bezahlung ? -- Heute nicht, erhielt
ich zur Antwort, das Concert findet zu einem wohlthätigen Zwecke
statt. -- Zu welchem? Zum Besten eines Zauns, welcher
um einen Kirchhof gezogen werden soll! -- Straußische
Walzer zum Besten eines Kirchhofzauns! Bravo!

Der junge Publicist Buhl aufi in der Stadtvogtei einen Arti¬
kel abbüßen, der in seinem "Patrioten" erschienen und gegen die hie¬
sige Postverwaltung gerichtet war. Eine solche Gefängnißstrafe hat
mancherlei Annehmlichkeiten. So z. B. dürfen die guten Bekannten
nur zu einer bestimmten halben Stunde den Gefangenen besuchen.
Um diesen Vortheil könnte man ihn beneiden. Zu den unangenehm¬
sten Dingen gehört jedoch das Regime, daß um acht Uhr Abends alle
Gefangenen zu Bette gehen müssen. Für einen Schriftsteller, der
gewohnt ist, bis spat in die Nacht zu arbeiten, ist dies eine Grau¬
samkeit und nun vollends im Monat Mai. Glücklicherweise hat Buhl
unter seinen Gefängnißgenossen (er ist wegen Ueberfüllung der Stadt¬
vogtei mit noch sieben Andern in ein und dasselbe Zimmer gebannt)
seinen ehemaligen Copisten gefunden, der an der geheiligten Person
eines Gensdarm durch etwelche Prügelung sich vergriffen hatte. Die¬
sem dictirt er .nun mancherlei schriftstellerische Arbeiten, worunter
hauptsachlich eine Uebersetzung der "Geschichte der letzten zehn Jahre von
Louis Blanc" sich befindet. -- Für die Ankunft der Kaiserin von
Rußland werden große Vorbereitungen getroffen. Das Theater soll
mit allen seinen Rekruten und Invaliden zu großen Probestücken sich
.vorbereiten. Unter Anderm soll der Faust mit der Radziwill'schen
Musik ganz aufgeführt werden, was ein Studium von zwei Monaten ko¬
sten wird. Zweiundzwanzig neue Decorationen sollen dazu gemalt
werden. Herr von Küstner hat ist einer Vorstellung an den König
Gründe gegen dieses Project eingereicht. Das Theater wird hier mehr
als eine Privatbühne des Hofes, denn als ein öffentliches Institut behan¬
delt. Die mannigfachen Kuriositäten, die von den Schauspielern auf
hohen Befehl einstudirt werden müssen ,und wobei unverhältnißmäßige
Zeit und Kosten in Anspruch genommen sind (wie durch die schwie¬
rige Darstellung des "gestiefelten Katers", des "Richelieu" u. f. w.)
nehmen die Studien des Schauspielers bei jeder Gelegenheit für ir¬
gend einen Privatabend in Anspruch und unterbrechen den Gang des
öffentlichen Theaters. Uebereilung, Collistonen sind dann die natürlich
eintretenden Folgen, und die ohnehin sehr herabgekommene Bühne
sinkt dadurch in der öffentlichen Gunst nur noch tiefer.


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Wien^'oder I.86

Anschlagzettel sielen mir die Worte auf! unter gütiger Leitung des
Herrn Musikdirektors I- Gungl. Warum „gütig" — fragte ich Je¬
mand — erhalt der Mann keine Bezahlung ? — Heute nicht, erhielt
ich zur Antwort, das Concert findet zu einem wohlthätigen Zwecke
statt. — Zu welchem? Zum Besten eines Zauns, welcher
um einen Kirchhof gezogen werden soll! — Straußische
Walzer zum Besten eines Kirchhofzauns! Bravo!

Der junge Publicist Buhl aufi in der Stadtvogtei einen Arti¬
kel abbüßen, der in seinem „Patrioten" erschienen und gegen die hie¬
sige Postverwaltung gerichtet war. Eine solche Gefängnißstrafe hat
mancherlei Annehmlichkeiten. So z. B. dürfen die guten Bekannten
nur zu einer bestimmten halben Stunde den Gefangenen besuchen.
Um diesen Vortheil könnte man ihn beneiden. Zu den unangenehm¬
sten Dingen gehört jedoch das Regime, daß um acht Uhr Abends alle
Gefangenen zu Bette gehen müssen. Für einen Schriftsteller, der
gewohnt ist, bis spat in die Nacht zu arbeiten, ist dies eine Grau¬
samkeit und nun vollends im Monat Mai. Glücklicherweise hat Buhl
unter seinen Gefängnißgenossen (er ist wegen Ueberfüllung der Stadt¬
vogtei mit noch sieben Andern in ein und dasselbe Zimmer gebannt)
seinen ehemaligen Copisten gefunden, der an der geheiligten Person
eines Gensdarm durch etwelche Prügelung sich vergriffen hatte. Die¬
sem dictirt er .nun mancherlei schriftstellerische Arbeiten, worunter
hauptsachlich eine Uebersetzung der „Geschichte der letzten zehn Jahre von
Louis Blanc" sich befindet. — Für die Ankunft der Kaiserin von
Rußland werden große Vorbereitungen getroffen. Das Theater soll
mit allen seinen Rekruten und Invaliden zu großen Probestücken sich
.vorbereiten. Unter Anderm soll der Faust mit der Radziwill'schen
Musik ganz aufgeführt werden, was ein Studium von zwei Monaten ko¬
sten wird. Zweiundzwanzig neue Decorationen sollen dazu gemalt
werden. Herr von Küstner hat ist einer Vorstellung an den König
Gründe gegen dieses Project eingereicht. Das Theater wird hier mehr
als eine Privatbühne des Hofes, denn als ein öffentliches Institut behan¬
delt. Die mannigfachen Kuriositäten, die von den Schauspielern auf
hohen Befehl einstudirt werden müssen ,und wobei unverhältnißmäßige
Zeit und Kosten in Anspruch genommen sind (wie durch die schwie¬
rige Darstellung des „gestiefelten Katers", des „Richelieu" u. f. w.)
nehmen die Studien des Schauspielers bei jeder Gelegenheit für ir¬
gend einen Privatabend in Anspruch und unterbrechen den Gang des
öffentlichen Theaters. Uebereilung, Collistonen sind dann die natürlich
eintretenden Folgen, und die ohnehin sehr herabgekommene Bühne
sinkt dadurch in der öffentlichen Gunst nur noch tiefer.


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Wien^'oder I.86
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[0669] Anschlagzettel sielen mir die Worte auf! unter gütiger Leitung des Herrn Musikdirektors I- Gungl. Warum „gütig" — fragte ich Je¬ mand — erhalt der Mann keine Bezahlung ? — Heute nicht, erhielt ich zur Antwort, das Concert findet zu einem wohlthätigen Zwecke statt. — Zu welchem? Zum Besten eines Zauns, welcher um einen Kirchhof gezogen werden soll! — Straußische Walzer zum Besten eines Kirchhofzauns! Bravo! Der junge Publicist Buhl aufi in der Stadtvogtei einen Arti¬ kel abbüßen, der in seinem „Patrioten" erschienen und gegen die hie¬ sige Postverwaltung gerichtet war. Eine solche Gefängnißstrafe hat mancherlei Annehmlichkeiten. So z. B. dürfen die guten Bekannten nur zu einer bestimmten halben Stunde den Gefangenen besuchen. Um diesen Vortheil könnte man ihn beneiden. Zu den unangenehm¬ sten Dingen gehört jedoch das Regime, daß um acht Uhr Abends alle Gefangenen zu Bette gehen müssen. Für einen Schriftsteller, der gewohnt ist, bis spat in die Nacht zu arbeiten, ist dies eine Grau¬ samkeit und nun vollends im Monat Mai. Glücklicherweise hat Buhl unter seinen Gefängnißgenossen (er ist wegen Ueberfüllung der Stadt¬ vogtei mit noch sieben Andern in ein und dasselbe Zimmer gebannt) seinen ehemaligen Copisten gefunden, der an der geheiligten Person eines Gensdarm durch etwelche Prügelung sich vergriffen hatte. Die¬ sem dictirt er .nun mancherlei schriftstellerische Arbeiten, worunter hauptsachlich eine Uebersetzung der „Geschichte der letzten zehn Jahre von Louis Blanc" sich befindet. — Für die Ankunft der Kaiserin von Rußland werden große Vorbereitungen getroffen. Das Theater soll mit allen seinen Rekruten und Invaliden zu großen Probestücken sich .vorbereiten. Unter Anderm soll der Faust mit der Radziwill'schen Musik ganz aufgeführt werden, was ein Studium von zwei Monaten ko¬ sten wird. Zweiundzwanzig neue Decorationen sollen dazu gemalt werden. Herr von Küstner hat ist einer Vorstellung an den König Gründe gegen dieses Project eingereicht. Das Theater wird hier mehr als eine Privatbühne des Hofes, denn als ein öffentliches Institut behan¬ delt. Die mannigfachen Kuriositäten, die von den Schauspielern auf hohen Befehl einstudirt werden müssen ,und wobei unverhältnißmäßige Zeit und Kosten in Anspruch genommen sind (wie durch die schwie¬ rige Darstellung des „gestiefelten Katers", des „Richelieu" u. f. w.) nehmen die Studien des Schauspielers bei jeder Gelegenheit für ir¬ gend einen Privatabend in Anspruch und unterbrechen den Gang des öffentlichen Theaters. Uebereilung, Collistonen sind dann die natürlich eintretenden Folgen, und die ohnehin sehr herabgekommene Bühne sinkt dadurch in der öffentlichen Gunst nur noch tiefer. -^-n— Wien^'oder I.86

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/669>, abgerufen am 22.12.2024.