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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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gen, eine Bedingung seines eigenen Daseins geknüpft fände, nicht bei
den Wunden der Zeit sein eigenes Herz bluten fühlte. Auf diese
Weise trägt Jeder schon durch sein Leben blos zur Geschichte der Zeit
bei; mag er nun unbewußt sich von ihren Strömungen fortreißen
lassen, oder durch eigene Kräfte stehend, das ihm vom Leben und der
Zeit Gebotene in sich selbst entwickeln, lange ehe es zu weltge¬
schichtlicher Lösung kommt. Diese Selbstentwickelung aber, das rast¬
lose Arbeiten an der Vollendung der eigenen Seele ist heute die
Sendung, die Religion eines Jeden, der es rechtfertigen will, daß er
Mensch geworden; und beneidenswert!), wem die schaffende Kraft ver¬
liehen, die einzelnen Stufengänge seiner Entwickelung im Wort fest¬
zuhalten, als Kunstwerk darzustellen. So wird der Glaube wieder¬
kehren, daß der Dichter, und nur der lyrische ist es in vollster Wahr¬
heit, ein erwählter Prophet sei; so wird der Dichter, über der Zeit
schwebend, dennoch ihr ewig angehören, weil er ihr den verklärenden
Spiegel seiner Subjektivität vorhält, in welchem sie ihre Strebungen
erfüllt und ihre Kämpfe ausgeglichen sieht.

Es scheint uns hier nothwendig, den Endpunkt anzudeuten, auf
den die Bewegungen der Zeit, ja die Fortschritte der Menschheit hin¬
wirken, und den der Dichter, ihr voranschreitend, erreicht haben muß
in seinem Denken, ehe ihn die Welt körperlich in ihren Ordnungen
und Einrichtungen besitzt. Wir können ihn mit einem Worte bezeich¬
nen, wenn wir sagen, daß die Philosophie, die in .Hegel einen Ab¬
schluß gefunden zu haben scheint, darauf hinweiset, daß sich aus dem
Schutt veralteter Institutionen, die nur noch von der physischen
Kraft, die den Stumpfsinn immer begleitet, aufrecht erhalten werden,
daß sich aus Heidenthum, Judenthum und so weiter endlich das
Geistthum entwickeln müsse. Das Christenthum, die glaubensvolle
Versenkung in eine Liebesoffenbarung, hob die Empfindung auf
eine Höhe, die der Begriff noch nicht erklommen hatte, denn Chri¬
stus war der empfindende Hegel, wie Hegel der denkende, begreifende
Christus war. Den Begriff aber, als allgemeine menschheitliche
Ueberzeugung, die im Staate zur That wird, in sich aufzunehmen,
ist die Aufgabe der Welt, und den Weg dahin zu bahnen, die der
Literatur. Fühlt sich aber gegenwärtig die Philosophie, wie es scheint,
dazu berufen, die einsame Stube des Denkers zu verlassen, um prak¬
tisch in das Leben der Völker einzugreifen, so mag sie auch ihre


gen, eine Bedingung seines eigenen Daseins geknüpft fände, nicht bei
den Wunden der Zeit sein eigenes Herz bluten fühlte. Auf diese
Weise trägt Jeder schon durch sein Leben blos zur Geschichte der Zeit
bei; mag er nun unbewußt sich von ihren Strömungen fortreißen
lassen, oder durch eigene Kräfte stehend, das ihm vom Leben und der
Zeit Gebotene in sich selbst entwickeln, lange ehe es zu weltge¬
schichtlicher Lösung kommt. Diese Selbstentwickelung aber, das rast¬
lose Arbeiten an der Vollendung der eigenen Seele ist heute die
Sendung, die Religion eines Jeden, der es rechtfertigen will, daß er
Mensch geworden; und beneidenswert!), wem die schaffende Kraft ver¬
liehen, die einzelnen Stufengänge seiner Entwickelung im Wort fest¬
zuhalten, als Kunstwerk darzustellen. So wird der Glaube wieder¬
kehren, daß der Dichter, und nur der lyrische ist es in vollster Wahr¬
heit, ein erwählter Prophet sei; so wird der Dichter, über der Zeit
schwebend, dennoch ihr ewig angehören, weil er ihr den verklärenden
Spiegel seiner Subjektivität vorhält, in welchem sie ihre Strebungen
erfüllt und ihre Kämpfe ausgeglichen sieht.

Es scheint uns hier nothwendig, den Endpunkt anzudeuten, auf
den die Bewegungen der Zeit, ja die Fortschritte der Menschheit hin¬
wirken, und den der Dichter, ihr voranschreitend, erreicht haben muß
in seinem Denken, ehe ihn die Welt körperlich in ihren Ordnungen
und Einrichtungen besitzt. Wir können ihn mit einem Worte bezeich¬
nen, wenn wir sagen, daß die Philosophie, die in .Hegel einen Ab¬
schluß gefunden zu haben scheint, darauf hinweiset, daß sich aus dem
Schutt veralteter Institutionen, die nur noch von der physischen
Kraft, die den Stumpfsinn immer begleitet, aufrecht erhalten werden,
daß sich aus Heidenthum, Judenthum und so weiter endlich das
Geistthum entwickeln müsse. Das Christenthum, die glaubensvolle
Versenkung in eine Liebesoffenbarung, hob die Empfindung auf
eine Höhe, die der Begriff noch nicht erklommen hatte, denn Chri¬
stus war der empfindende Hegel, wie Hegel der denkende, begreifende
Christus war. Den Begriff aber, als allgemeine menschheitliche
Ueberzeugung, die im Staate zur That wird, in sich aufzunehmen,
ist die Aufgabe der Welt, und den Weg dahin zu bahnen, die der
Literatur. Fühlt sich aber gegenwärtig die Philosophie, wie es scheint,
dazu berufen, die einsame Stube des Denkers zu verlassen, um prak¬
tisch in das Leben der Völker einzugreifen, so mag sie auch ihre


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[0590] gen, eine Bedingung seines eigenen Daseins geknüpft fände, nicht bei den Wunden der Zeit sein eigenes Herz bluten fühlte. Auf diese Weise trägt Jeder schon durch sein Leben blos zur Geschichte der Zeit bei; mag er nun unbewußt sich von ihren Strömungen fortreißen lassen, oder durch eigene Kräfte stehend, das ihm vom Leben und der Zeit Gebotene in sich selbst entwickeln, lange ehe es zu weltge¬ schichtlicher Lösung kommt. Diese Selbstentwickelung aber, das rast¬ lose Arbeiten an der Vollendung der eigenen Seele ist heute die Sendung, die Religion eines Jeden, der es rechtfertigen will, daß er Mensch geworden; und beneidenswert!), wem die schaffende Kraft ver¬ liehen, die einzelnen Stufengänge seiner Entwickelung im Wort fest¬ zuhalten, als Kunstwerk darzustellen. So wird der Glaube wieder¬ kehren, daß der Dichter, und nur der lyrische ist es in vollster Wahr¬ heit, ein erwählter Prophet sei; so wird der Dichter, über der Zeit schwebend, dennoch ihr ewig angehören, weil er ihr den verklärenden Spiegel seiner Subjektivität vorhält, in welchem sie ihre Strebungen erfüllt und ihre Kämpfe ausgeglichen sieht. Es scheint uns hier nothwendig, den Endpunkt anzudeuten, auf den die Bewegungen der Zeit, ja die Fortschritte der Menschheit hin¬ wirken, und den der Dichter, ihr voranschreitend, erreicht haben muß in seinem Denken, ehe ihn die Welt körperlich in ihren Ordnungen und Einrichtungen besitzt. Wir können ihn mit einem Worte bezeich¬ nen, wenn wir sagen, daß die Philosophie, die in .Hegel einen Ab¬ schluß gefunden zu haben scheint, darauf hinweiset, daß sich aus dem Schutt veralteter Institutionen, die nur noch von der physischen Kraft, die den Stumpfsinn immer begleitet, aufrecht erhalten werden, daß sich aus Heidenthum, Judenthum und so weiter endlich das Geistthum entwickeln müsse. Das Christenthum, die glaubensvolle Versenkung in eine Liebesoffenbarung, hob die Empfindung auf eine Höhe, die der Begriff noch nicht erklommen hatte, denn Chri¬ stus war der empfindende Hegel, wie Hegel der denkende, begreifende Christus war. Den Begriff aber, als allgemeine menschheitliche Ueberzeugung, die im Staate zur That wird, in sich aufzunehmen, ist die Aufgabe der Welt, und den Weg dahin zu bahnen, die der Literatur. Fühlt sich aber gegenwärtig die Philosophie, wie es scheint, dazu berufen, die einsame Stube des Denkers zu verlassen, um prak¬ tisch in das Leben der Völker einzugreifen, so mag sie auch ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/590>, abgerufen am 29.06.2024.