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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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lire auf dem Parnaß, weil seine Weise nicht Manier und deshalb
nicht so leicht nachzuahmen war. Heine aber wurde beinahe zur
Schule, aus der kein Meister hervorging; denn aus dem ganzen
Heer seiner Nachahmer ist ihm Keiner zur Seite gestellt worden.
Indessen bildete sich, hauptsächlich von Anastasius Grün's glänzendem
Beispiele verlockt, eine andere Schaar gewappneter Sänger, von de¬
nen jedoch die Meisten den Zorn für eine Muse und die Erbitterung
für eine Begeisterung hielten. Die Julirevolution nämlich, die wir
oben als von so großem Einfluß auf den Charakter der deutschen
Lyrik bezeichneten/hatte für Deutschland weitgreifendere Wirkungen
als für Frankreich, dem sie sogleich ein politisches Resultat gab, wäh-
rend sie bei uns die schreiendsten Wunden wieder aufriß und die
stürmischsten Forderungen rege machte, ohne jenen eine gänzliche Hei¬
lung, diesen eine vollständige Befriedigung zu geben. Die politischen
Gedichte, vom Blut jener Wunden, vom Schrei jener Forderungen
erfüllt, machten sich geltend und wateten tiefer, als eS der zarten
Gesundheit der lyrischen Poesie zuträglich ist, in den unsaubersten
Pfützen der Zeit. Unbekannte Dichterlinge liefen von allen Seiten
herbei, ihren Namen durch die willkommene Lärmtrompete des politi¬
schen Liedes auszuschreien, Andere schlössen sich mit großem Talent
und in wirklicher Begeisterung an, um am Ende das Talent genoth¬
züchtigt, die Begeisterung erloschen, höchstens durch künstliche Mittel
angefacht zu sehen. Es ist immer schrecklich, sein eigenstes Selbst,
die Essenz seines Wesens, weil man sie an den Wagen der Zeit
knüpfen wollte, am Ende von ihren fortrollenden Rädern spurlos
zermalmt zu wissen. Und Herwegh, die Nachtigall als Feldtrompe¬
ter, wird an diesem Schicksal zu Grunde gehen, wenn er sich nicht
von dem Fluch, der ihn an den Tageslärm fesselt, losreißen kann,
um sich in die verborgenste Einsamkeit seiner Seele zu flüchten. Er,
der vielleicht durch sein ernstes Talent dazu bestimmt gewesen
wäre, die Zeit einer neuen Entwickelung entgegenzuführen, wird sich
endlich dazu verurtheilt sehen, allen ihren Bewegungen wie ein ge¬
duldiges Lastthier nachzulaufen.

Und der Zweck der heutigen Lyrik? Die Trompeten von Jericho
sind verloren gegangen und vor dem Trompetenton unserer Lyrik
wird keine einzige finstere Mauer einstürzen. Je ausschließlicher in
unseren Gedichten die Freiheit besungen wird, desto mehr ist zu


lire auf dem Parnaß, weil seine Weise nicht Manier und deshalb
nicht so leicht nachzuahmen war. Heine aber wurde beinahe zur
Schule, aus der kein Meister hervorging; denn aus dem ganzen
Heer seiner Nachahmer ist ihm Keiner zur Seite gestellt worden.
Indessen bildete sich, hauptsächlich von Anastasius Grün's glänzendem
Beispiele verlockt, eine andere Schaar gewappneter Sänger, von de¬
nen jedoch die Meisten den Zorn für eine Muse und die Erbitterung
für eine Begeisterung hielten. Die Julirevolution nämlich, die wir
oben als von so großem Einfluß auf den Charakter der deutschen
Lyrik bezeichneten/hatte für Deutschland weitgreifendere Wirkungen
als für Frankreich, dem sie sogleich ein politisches Resultat gab, wäh-
rend sie bei uns die schreiendsten Wunden wieder aufriß und die
stürmischsten Forderungen rege machte, ohne jenen eine gänzliche Hei¬
lung, diesen eine vollständige Befriedigung zu geben. Die politischen
Gedichte, vom Blut jener Wunden, vom Schrei jener Forderungen
erfüllt, machten sich geltend und wateten tiefer, als eS der zarten
Gesundheit der lyrischen Poesie zuträglich ist, in den unsaubersten
Pfützen der Zeit. Unbekannte Dichterlinge liefen von allen Seiten
herbei, ihren Namen durch die willkommene Lärmtrompete des politi¬
schen Liedes auszuschreien, Andere schlössen sich mit großem Talent
und in wirklicher Begeisterung an, um am Ende das Talent genoth¬
züchtigt, die Begeisterung erloschen, höchstens durch künstliche Mittel
angefacht zu sehen. Es ist immer schrecklich, sein eigenstes Selbst,
die Essenz seines Wesens, weil man sie an den Wagen der Zeit
knüpfen wollte, am Ende von ihren fortrollenden Rädern spurlos
zermalmt zu wissen. Und Herwegh, die Nachtigall als Feldtrompe¬
ter, wird an diesem Schicksal zu Grunde gehen, wenn er sich nicht
von dem Fluch, der ihn an den Tageslärm fesselt, losreißen kann,
um sich in die verborgenste Einsamkeit seiner Seele zu flüchten. Er,
der vielleicht durch sein ernstes Talent dazu bestimmt gewesen
wäre, die Zeit einer neuen Entwickelung entgegenzuführen, wird sich
endlich dazu verurtheilt sehen, allen ihren Bewegungen wie ein ge¬
duldiges Lastthier nachzulaufen.

Und der Zweck der heutigen Lyrik? Die Trompeten von Jericho
sind verloren gegangen und vor dem Trompetenton unserer Lyrik
wird keine einzige finstere Mauer einstürzen. Je ausschließlicher in
unseren Gedichten die Freiheit besungen wird, desto mehr ist zu


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[0587] lire auf dem Parnaß, weil seine Weise nicht Manier und deshalb nicht so leicht nachzuahmen war. Heine aber wurde beinahe zur Schule, aus der kein Meister hervorging; denn aus dem ganzen Heer seiner Nachahmer ist ihm Keiner zur Seite gestellt worden. Indessen bildete sich, hauptsächlich von Anastasius Grün's glänzendem Beispiele verlockt, eine andere Schaar gewappneter Sänger, von de¬ nen jedoch die Meisten den Zorn für eine Muse und die Erbitterung für eine Begeisterung hielten. Die Julirevolution nämlich, die wir oben als von so großem Einfluß auf den Charakter der deutschen Lyrik bezeichneten/hatte für Deutschland weitgreifendere Wirkungen als für Frankreich, dem sie sogleich ein politisches Resultat gab, wäh- rend sie bei uns die schreiendsten Wunden wieder aufriß und die stürmischsten Forderungen rege machte, ohne jenen eine gänzliche Hei¬ lung, diesen eine vollständige Befriedigung zu geben. Die politischen Gedichte, vom Blut jener Wunden, vom Schrei jener Forderungen erfüllt, machten sich geltend und wateten tiefer, als eS der zarten Gesundheit der lyrischen Poesie zuträglich ist, in den unsaubersten Pfützen der Zeit. Unbekannte Dichterlinge liefen von allen Seiten herbei, ihren Namen durch die willkommene Lärmtrompete des politi¬ schen Liedes auszuschreien, Andere schlössen sich mit großem Talent und in wirklicher Begeisterung an, um am Ende das Talent genoth¬ züchtigt, die Begeisterung erloschen, höchstens durch künstliche Mittel angefacht zu sehen. Es ist immer schrecklich, sein eigenstes Selbst, die Essenz seines Wesens, weil man sie an den Wagen der Zeit knüpfen wollte, am Ende von ihren fortrollenden Rädern spurlos zermalmt zu wissen. Und Herwegh, die Nachtigall als Feldtrompe¬ ter, wird an diesem Schicksal zu Grunde gehen, wenn er sich nicht von dem Fluch, der ihn an den Tageslärm fesselt, losreißen kann, um sich in die verborgenste Einsamkeit seiner Seele zu flüchten. Er, der vielleicht durch sein ernstes Talent dazu bestimmt gewesen wäre, die Zeit einer neuen Entwickelung entgegenzuführen, wird sich endlich dazu verurtheilt sehen, allen ihren Bewegungen wie ein ge¬ duldiges Lastthier nachzulaufen. Und der Zweck der heutigen Lyrik? Die Trompeten von Jericho sind verloren gegangen und vor dem Trompetenton unserer Lyrik wird keine einzige finstere Mauer einstürzen. Je ausschließlicher in unseren Gedichten die Freiheit besungen wird, desto mehr ist zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/587>, abgerufen am 29.06.2024.