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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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das sie beschwichtigen soll. Die gesteigerten Anforderungen des phy¬
sischen Lebens aber, die gehäuften materiellen Bedürfnisse, die bei
den Meisten das ganze Leben selbst in Anspruch nehmen, lassen die¬
sen Drang nicht zur Befriedigung gelangen. So schwanken Alle,
die durch die Vernichtungskämpfe der Zeit aus ihrer sicheren Ruhe
geschreckt wurden, gleich Lord Byron zerrissen zwischen Himmel
und Erde, ohne sein Talent, ohne gleich ihm dem Schmerz eine
Melodie geben zu können, die das Ohr der Welt zum Lauschen, das
Herz der Menge zur Theilnahme zwingt. So fühlen Alle, die mit
der Zeit kranken, ohne, ihr voranschreitend, durch eigene Entwicklung
genesen zu können, ein tiefes, unenträthselbares Weh, aber wie Säug¬
linge können sie nur weinen, nicht nenne.n, was sie schmerzt und
was ihnen Noth thut.

In der Literatur führte der Schmerz, den die Welt dem Indi¬
viduum verursacht, zum Schmerz, den das Individuum um die Welt
selbst empfindet. Die Träger dieses eigentliche,: Weltschmerzes in
seiner Erhabenheit sind die edelsten Erscheinungen unserer Zeit, wir
nennen nur: G. Sand, Lammenais, Ludwig Börne. Der deut¬
schen Lyrik aber wurde die Lord Byron'sche Zerrissenheit erst durch
Heine zugeführt, dessen Muse, weil sie die Thränen schon verweint
hat, mit höhnisch lachendem Munde weint. Demnach erscheint das
Weh in seinen Gedichten, an kleinliche Liebesangelegenheiten geknüpft,
fast wie eine Verzerrung, wie eine Karrikatur der Lord Byron'schen
Größe. Näher an die eigentliche Literatur des großen Briten rückte
Nikolaus Lenau. Die Weltgeschichte des Schmerzes ist in seinen
Dichtungen mit so erschütternden Tönen wiedergegeben, daß das stol¬
zeste und resignirteste Gemüth seine Verwandtschaft mit dem allge¬
meinen Weh der Menschheit und der Natur herausfühlen muß, wenn
es sich in diese Lieder versenkt, die aus einem schmerzlichen, durch die
Schöpfung gehenden Riß hervorzuquellen scheinen. Wenn Byron
größere Bewunderung erweckt, so ist es, weil er mehr künstlerisches
Talent besaß und seine Individualität episch und dramatisch verar¬
beiten konnte, was Lenau nicht vermag, der nur die äußere, sichtbare
Natur, aber diese ohne Gleichen darzustellen weiß. Dieses lyrische,
passive, weibliche Element in ihm, das mehr klagend duldet, als sich
höhnend auflehnt, rechtfertigt die witzige Bezeichnung, die ihm ein
Kritiker beilegte: die Schwester Byron's. Lenau blieb ziemlich iso-


das sie beschwichtigen soll. Die gesteigerten Anforderungen des phy¬
sischen Lebens aber, die gehäuften materiellen Bedürfnisse, die bei
den Meisten das ganze Leben selbst in Anspruch nehmen, lassen die¬
sen Drang nicht zur Befriedigung gelangen. So schwanken Alle,
die durch die Vernichtungskämpfe der Zeit aus ihrer sicheren Ruhe
geschreckt wurden, gleich Lord Byron zerrissen zwischen Himmel
und Erde, ohne sein Talent, ohne gleich ihm dem Schmerz eine
Melodie geben zu können, die das Ohr der Welt zum Lauschen, das
Herz der Menge zur Theilnahme zwingt. So fühlen Alle, die mit
der Zeit kranken, ohne, ihr voranschreitend, durch eigene Entwicklung
genesen zu können, ein tiefes, unenträthselbares Weh, aber wie Säug¬
linge können sie nur weinen, nicht nenne.n, was sie schmerzt und
was ihnen Noth thut.

In der Literatur führte der Schmerz, den die Welt dem Indi¬
viduum verursacht, zum Schmerz, den das Individuum um die Welt
selbst empfindet. Die Träger dieses eigentliche,: Weltschmerzes in
seiner Erhabenheit sind die edelsten Erscheinungen unserer Zeit, wir
nennen nur: G. Sand, Lammenais, Ludwig Börne. Der deut¬
schen Lyrik aber wurde die Lord Byron'sche Zerrissenheit erst durch
Heine zugeführt, dessen Muse, weil sie die Thränen schon verweint
hat, mit höhnisch lachendem Munde weint. Demnach erscheint das
Weh in seinen Gedichten, an kleinliche Liebesangelegenheiten geknüpft,
fast wie eine Verzerrung, wie eine Karrikatur der Lord Byron'schen
Größe. Näher an die eigentliche Literatur des großen Briten rückte
Nikolaus Lenau. Die Weltgeschichte des Schmerzes ist in seinen
Dichtungen mit so erschütternden Tönen wiedergegeben, daß das stol¬
zeste und resignirteste Gemüth seine Verwandtschaft mit dem allge¬
meinen Weh der Menschheit und der Natur herausfühlen muß, wenn
es sich in diese Lieder versenkt, die aus einem schmerzlichen, durch die
Schöpfung gehenden Riß hervorzuquellen scheinen. Wenn Byron
größere Bewunderung erweckt, so ist es, weil er mehr künstlerisches
Talent besaß und seine Individualität episch und dramatisch verar¬
beiten konnte, was Lenau nicht vermag, der nur die äußere, sichtbare
Natur, aber diese ohne Gleichen darzustellen weiß. Dieses lyrische,
passive, weibliche Element in ihm, das mehr klagend duldet, als sich
höhnend auflehnt, rechtfertigt die witzige Bezeichnung, die ihm ein
Kritiker beilegte: die Schwester Byron's. Lenau blieb ziemlich iso-


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[0586] das sie beschwichtigen soll. Die gesteigerten Anforderungen des phy¬ sischen Lebens aber, die gehäuften materiellen Bedürfnisse, die bei den Meisten das ganze Leben selbst in Anspruch nehmen, lassen die¬ sen Drang nicht zur Befriedigung gelangen. So schwanken Alle, die durch die Vernichtungskämpfe der Zeit aus ihrer sicheren Ruhe geschreckt wurden, gleich Lord Byron zerrissen zwischen Himmel und Erde, ohne sein Talent, ohne gleich ihm dem Schmerz eine Melodie geben zu können, die das Ohr der Welt zum Lauschen, das Herz der Menge zur Theilnahme zwingt. So fühlen Alle, die mit der Zeit kranken, ohne, ihr voranschreitend, durch eigene Entwicklung genesen zu können, ein tiefes, unenträthselbares Weh, aber wie Säug¬ linge können sie nur weinen, nicht nenne.n, was sie schmerzt und was ihnen Noth thut. In der Literatur führte der Schmerz, den die Welt dem Indi¬ viduum verursacht, zum Schmerz, den das Individuum um die Welt selbst empfindet. Die Träger dieses eigentliche,: Weltschmerzes in seiner Erhabenheit sind die edelsten Erscheinungen unserer Zeit, wir nennen nur: G. Sand, Lammenais, Ludwig Börne. Der deut¬ schen Lyrik aber wurde die Lord Byron'sche Zerrissenheit erst durch Heine zugeführt, dessen Muse, weil sie die Thränen schon verweint hat, mit höhnisch lachendem Munde weint. Demnach erscheint das Weh in seinen Gedichten, an kleinliche Liebesangelegenheiten geknüpft, fast wie eine Verzerrung, wie eine Karrikatur der Lord Byron'schen Größe. Näher an die eigentliche Literatur des großen Briten rückte Nikolaus Lenau. Die Weltgeschichte des Schmerzes ist in seinen Dichtungen mit so erschütternden Tönen wiedergegeben, daß das stol¬ zeste und resignirteste Gemüth seine Verwandtschaft mit dem allge¬ meinen Weh der Menschheit und der Natur herausfühlen muß, wenn es sich in diese Lieder versenkt, die aus einem schmerzlichen, durch die Schöpfung gehenden Riß hervorzuquellen scheinen. Wenn Byron größere Bewunderung erweckt, so ist es, weil er mehr künstlerisches Talent besaß und seine Individualität episch und dramatisch verar¬ beiten konnte, was Lenau nicht vermag, der nur die äußere, sichtbare Natur, aber diese ohne Gleichen darzustellen weiß. Dieses lyrische, passive, weibliche Element in ihm, das mehr klagend duldet, als sich höhnend auflehnt, rechtfertigt die witzige Bezeichnung, die ihm ein Kritiker beilegte: die Schwester Byron's. Lenau blieb ziemlich iso-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/586>, abgerufen am 29.06.2024.