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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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voraus hat, seinen Träumen dadurch eine Art Realisirung zu geben,
daß er sie aussprechen kann; er hatte sich eine in allen Theilen voll¬
endete Gedankenwelt gemeißelt, brach aber in Hohn und bittere Kla¬
gen aus, da er, unglücklicher als Pygmalion, seine Galathea nicht
lebendig werden sah. Die wirkliche Welt schien ihm nun ein Spott¬
werk des Teufels und die Poesie nur der Beweis, daß es eine Welt
geben könnte, die ein Gott erschaffen hat. Nur wenn die Natur in
ihrer unbegriffenen Große und Einfachheit mächtig zu ihm sprach, zuckte ein
lichtes Lächeln über das. Angesicht dieses gefallenen Engels. Die fast
schauerliche Hohe, zu der er sich erhob, hätte der Weg zum freudigsten
Einzug in den Himmel der Versöhnung sein sollen und war ihm
nur das Mittel zum schmerzhaftesten Sturz auf die Erde zurück. Zu
jenem durch alle Ahnungen seiner Dichterseele emporgehoben, auf
diese zurückversetzt durch seine Liebe zur Menschheit und die sinnlich¬
sten Begierden seines Menschseins, schwankte sein Herz zerrissen
zwischen beiden; zu himmlisch für die Erde, zu irdisch für den Himmel.

Wer erkennt darin nicht das Vorbild einer Periode, die wir
noch nicht ganz hinter uns haben, die der Zerrissenheit und des Welt¬
schmerzes? Die äußeren Typen des Schmerzes, die zergrämtcn Mie¬
nen und die langgewachsenen Bärte, wurden von der Mode sanc-
tionirt und von der Satyre als Thorheit gegeißelt: die tiefe, am
Herzen der Zeit fressende Wahrheit dieses Schmerzes aber kann von
der Satyre nicht erreicht, von der Mode nicht in ihren Kreis gezo¬
gen werden und wird erst aufhören durch eine große Geschichte,
durch Revolutionen, die wir zu erwarten haben.

Unser Jahrhundert war bis jetzt mehr ein einreißendes, als ein
aufbauendes; es scheint dazu bestimmt, den Grund zu reinigen, auf
dem ein künftiges Jahrhundert seinen Prachtbau aufführen will, und
diese Arbeit durch Wegräumung verjährten Schuttes vorzubereiten.
Immer mehr stürzen, wenn auch nicht in der materiellen, doch in der
intelligiblen Welt die Säulen alter Institutionen, die Gebäude lang
gestandener Glaubenssysteme ; die Vielen aber, die in diesen Gebäu¬
den Schutz und eine beschränkte Sicherheit fanden, irren nun un¬
glücklich und obdachlos umher, noch nicht daran gewöhnt, unter
"freiem Himmel" zu liegen. Die Seelen sind aufgeregt, in Sturm
gesetzt und voll des lechzender Dranges nach einem geistigen Oel,


voraus hat, seinen Träumen dadurch eine Art Realisirung zu geben,
daß er sie aussprechen kann; er hatte sich eine in allen Theilen voll¬
endete Gedankenwelt gemeißelt, brach aber in Hohn und bittere Kla¬
gen aus, da er, unglücklicher als Pygmalion, seine Galathea nicht
lebendig werden sah. Die wirkliche Welt schien ihm nun ein Spott¬
werk des Teufels und die Poesie nur der Beweis, daß es eine Welt
geben könnte, die ein Gott erschaffen hat. Nur wenn die Natur in
ihrer unbegriffenen Große und Einfachheit mächtig zu ihm sprach, zuckte ein
lichtes Lächeln über das. Angesicht dieses gefallenen Engels. Die fast
schauerliche Hohe, zu der er sich erhob, hätte der Weg zum freudigsten
Einzug in den Himmel der Versöhnung sein sollen und war ihm
nur das Mittel zum schmerzhaftesten Sturz auf die Erde zurück. Zu
jenem durch alle Ahnungen seiner Dichterseele emporgehoben, auf
diese zurückversetzt durch seine Liebe zur Menschheit und die sinnlich¬
sten Begierden seines Menschseins, schwankte sein Herz zerrissen
zwischen beiden; zu himmlisch für die Erde, zu irdisch für den Himmel.

Wer erkennt darin nicht das Vorbild einer Periode, die wir
noch nicht ganz hinter uns haben, die der Zerrissenheit und des Welt¬
schmerzes? Die äußeren Typen des Schmerzes, die zergrämtcn Mie¬
nen und die langgewachsenen Bärte, wurden von der Mode sanc-
tionirt und von der Satyre als Thorheit gegeißelt: die tiefe, am
Herzen der Zeit fressende Wahrheit dieses Schmerzes aber kann von
der Satyre nicht erreicht, von der Mode nicht in ihren Kreis gezo¬
gen werden und wird erst aufhören durch eine große Geschichte,
durch Revolutionen, die wir zu erwarten haben.

Unser Jahrhundert war bis jetzt mehr ein einreißendes, als ein
aufbauendes; es scheint dazu bestimmt, den Grund zu reinigen, auf
dem ein künftiges Jahrhundert seinen Prachtbau aufführen will, und
diese Arbeit durch Wegräumung verjährten Schuttes vorzubereiten.
Immer mehr stürzen, wenn auch nicht in der materiellen, doch in der
intelligiblen Welt die Säulen alter Institutionen, die Gebäude lang
gestandener Glaubenssysteme ; die Vielen aber, die in diesen Gebäu¬
den Schutz und eine beschränkte Sicherheit fanden, irren nun un¬
glücklich und obdachlos umher, noch nicht daran gewöhnt, unter
„freiem Himmel" zu liegen. Die Seelen sind aufgeregt, in Sturm
gesetzt und voll des lechzender Dranges nach einem geistigen Oel,


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[0585] voraus hat, seinen Träumen dadurch eine Art Realisirung zu geben, daß er sie aussprechen kann; er hatte sich eine in allen Theilen voll¬ endete Gedankenwelt gemeißelt, brach aber in Hohn und bittere Kla¬ gen aus, da er, unglücklicher als Pygmalion, seine Galathea nicht lebendig werden sah. Die wirkliche Welt schien ihm nun ein Spott¬ werk des Teufels und die Poesie nur der Beweis, daß es eine Welt geben könnte, die ein Gott erschaffen hat. Nur wenn die Natur in ihrer unbegriffenen Große und Einfachheit mächtig zu ihm sprach, zuckte ein lichtes Lächeln über das. Angesicht dieses gefallenen Engels. Die fast schauerliche Hohe, zu der er sich erhob, hätte der Weg zum freudigsten Einzug in den Himmel der Versöhnung sein sollen und war ihm nur das Mittel zum schmerzhaftesten Sturz auf die Erde zurück. Zu jenem durch alle Ahnungen seiner Dichterseele emporgehoben, auf diese zurückversetzt durch seine Liebe zur Menschheit und die sinnlich¬ sten Begierden seines Menschseins, schwankte sein Herz zerrissen zwischen beiden; zu himmlisch für die Erde, zu irdisch für den Himmel. Wer erkennt darin nicht das Vorbild einer Periode, die wir noch nicht ganz hinter uns haben, die der Zerrissenheit und des Welt¬ schmerzes? Die äußeren Typen des Schmerzes, die zergrämtcn Mie¬ nen und die langgewachsenen Bärte, wurden von der Mode sanc- tionirt und von der Satyre als Thorheit gegeißelt: die tiefe, am Herzen der Zeit fressende Wahrheit dieses Schmerzes aber kann von der Satyre nicht erreicht, von der Mode nicht in ihren Kreis gezo¬ gen werden und wird erst aufhören durch eine große Geschichte, durch Revolutionen, die wir zu erwarten haben. Unser Jahrhundert war bis jetzt mehr ein einreißendes, als ein aufbauendes; es scheint dazu bestimmt, den Grund zu reinigen, auf dem ein künftiges Jahrhundert seinen Prachtbau aufführen will, und diese Arbeit durch Wegräumung verjährten Schuttes vorzubereiten. Immer mehr stürzen, wenn auch nicht in der materiellen, doch in der intelligiblen Welt die Säulen alter Institutionen, die Gebäude lang gestandener Glaubenssysteme ; die Vielen aber, die in diesen Gebäu¬ den Schutz und eine beschränkte Sicherheit fanden, irren nun un¬ glücklich und obdachlos umher, noch nicht daran gewöhnt, unter „freiem Himmel" zu liegen. Die Seelen sind aufgeregt, in Sturm gesetzt und voll des lechzender Dranges nach einem geistigen Oel,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/585>, abgerufen am 29.06.2024.