Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

dem gewiß eben so sehr an der Bürgerschaft, welche sich nicht über
vermoderte Corporationsprivilegien und Interesse!, zu erheben weiß
und allenthalben indifferent ist, wo es nicht auf die Steuern an¬
kommt. Daß eine schlechte Verfassung die Finanzen ruinirt, ist all¬
gemein anerkannt, hier scheint man Nichts davon wissen^ zu wollen.
Die Lübeck'sche Verfassung hemmt durch ihren zünftigen Egoismus
die freie Entwicklung aller Kräfte; der Industrie ist durch sie alles
Terrain genommen, und dem Handel werden die größten Hemmnisse
in den Weg gelegt.

Man klagte denn auch bei Tisch über den immer tiefer sinken¬
den Preis der Häuser, welche man für den zehnten bis zwölften
Theil ihres Werthes kaufen kann, und über die immer zunehmenden
Banquerotte. Das Alles sind Symptome einer gefährlichen Krank¬
heit. Es wäre doch traurig, wenn Lübeck, eine der ehrwürdigsten
Städte, die so manchem Sturme muthig getrotzt hat, ihre Souveräni¬
tät niederlegen und sich unter das Szepter eines Fürsten beugen
müßte. Herr Geibel konnte jo hübsch singen: "Es herrscht kein
Fürst, wo ich geboren." Im Volke freilich soll man nur Heil von
einem solchen Schritte erwarten, und mit Mißtrauen auf die eigenen
Staatsbehörden blicken.

Demungeachtet ist Lübeck eine sehr sehenswerthe Stadt, und ich
bereue es wahrlich nicht, ein paar Tage in ihr verweilt zu haben.
Schon die Umgebung ist reizend, sie trägt den üppigen, fruchtbaren
Charakter Holsteins. Man bekommt in Lübeck recht einen Begriff
von dein Städteleben des Mittelalters. Wie eigenthümlich wirkt die
Architektonik dieser engen "Gruben" auf ein Auge, welches den cha¬
rakterlosen Baustyl der breiten Berliner Straßen gewohnt ist. Unsere
Vorfahren waren derbe, ehrliche Leute, sie liebten das Maskiren
nicht, auch nicht an ihren Häusern. Darum wichen sie denn auch
in der Form ihrer Häusergiebel nicht von der natürlichen Form des
Daches ab, und bauten nicht in die Breite, nicht in'S Horizontale,
sondern empor, in ihren Häusern, wie in ihren Kirchen! Man muß
diese Lübeckschen Straßen mit ihren starken, emporstrebenden Trep¬
pengiebeln im Lichte der sinkenden Sonne sehen, -- eS ist ein wun¬
derbarer, tief ergreifender malerischer Anblick!

Eine der großartigsten und interessantesten Kirchen Deutschlands
und überhaupt aller, die ich jemals gesehen habe, ist unzweifelhaft


dem gewiß eben so sehr an der Bürgerschaft, welche sich nicht über
vermoderte Corporationsprivilegien und Interesse!, zu erheben weiß
und allenthalben indifferent ist, wo es nicht auf die Steuern an¬
kommt. Daß eine schlechte Verfassung die Finanzen ruinirt, ist all¬
gemein anerkannt, hier scheint man Nichts davon wissen^ zu wollen.
Die Lübeck'sche Verfassung hemmt durch ihren zünftigen Egoismus
die freie Entwicklung aller Kräfte; der Industrie ist durch sie alles
Terrain genommen, und dem Handel werden die größten Hemmnisse
in den Weg gelegt.

Man klagte denn auch bei Tisch über den immer tiefer sinken¬
den Preis der Häuser, welche man für den zehnten bis zwölften
Theil ihres Werthes kaufen kann, und über die immer zunehmenden
Banquerotte. Das Alles sind Symptome einer gefährlichen Krank¬
heit. Es wäre doch traurig, wenn Lübeck, eine der ehrwürdigsten
Städte, die so manchem Sturme muthig getrotzt hat, ihre Souveräni¬
tät niederlegen und sich unter das Szepter eines Fürsten beugen
müßte. Herr Geibel konnte jo hübsch singen: „Es herrscht kein
Fürst, wo ich geboren." Im Volke freilich soll man nur Heil von
einem solchen Schritte erwarten, und mit Mißtrauen auf die eigenen
Staatsbehörden blicken.

Demungeachtet ist Lübeck eine sehr sehenswerthe Stadt, und ich
bereue es wahrlich nicht, ein paar Tage in ihr verweilt zu haben.
Schon die Umgebung ist reizend, sie trägt den üppigen, fruchtbaren
Charakter Holsteins. Man bekommt in Lübeck recht einen Begriff
von dein Städteleben des Mittelalters. Wie eigenthümlich wirkt die
Architektonik dieser engen „Gruben" auf ein Auge, welches den cha¬
rakterlosen Baustyl der breiten Berliner Straßen gewohnt ist. Unsere
Vorfahren waren derbe, ehrliche Leute, sie liebten das Maskiren
nicht, auch nicht an ihren Häusern. Darum wichen sie denn auch
in der Form ihrer Häusergiebel nicht von der natürlichen Form des
Daches ab, und bauten nicht in die Breite, nicht in'S Horizontale,
sondern empor, in ihren Häusern, wie in ihren Kirchen! Man muß
diese Lübeckschen Straßen mit ihren starken, emporstrebenden Trep¬
pengiebeln im Lichte der sinkenden Sonne sehen, — eS ist ein wun¬
derbarer, tief ergreifender malerischer Anblick!

Eine der großartigsten und interessantesten Kirchen Deutschlands
und überhaupt aller, die ich jemals gesehen habe, ist unzweifelhaft


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0568" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180281"/>
            <p xml:id="ID_1503" prev="#ID_1502"> dem gewiß eben so sehr an der Bürgerschaft, welche sich nicht über<lb/>
vermoderte Corporationsprivilegien und Interesse!, zu erheben weiß<lb/>
und allenthalben indifferent ist, wo es nicht auf die Steuern an¬<lb/>
kommt. Daß eine schlechte Verfassung die Finanzen ruinirt, ist all¬<lb/>
gemein anerkannt, hier scheint man Nichts davon wissen^ zu wollen.<lb/>
Die Lübeck'sche Verfassung hemmt durch ihren zünftigen Egoismus<lb/>
die freie Entwicklung aller Kräfte; der Industrie ist durch sie alles<lb/>
Terrain genommen, und dem Handel werden die größten Hemmnisse<lb/>
in den Weg gelegt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1504"> Man klagte denn auch bei Tisch über den immer tiefer sinken¬<lb/>
den Preis der Häuser, welche man für den zehnten bis zwölften<lb/>
Theil ihres Werthes kaufen kann, und über die immer zunehmenden<lb/>
Banquerotte. Das Alles sind Symptome einer gefährlichen Krank¬<lb/>
heit. Es wäre doch traurig, wenn Lübeck, eine der ehrwürdigsten<lb/>
Städte, die so manchem Sturme muthig getrotzt hat, ihre Souveräni¬<lb/>
tät niederlegen und sich unter das Szepter eines Fürsten beugen<lb/>
müßte. Herr Geibel konnte jo hübsch singen: &#x201E;Es herrscht kein<lb/>
Fürst, wo ich geboren." Im Volke freilich soll man nur Heil von<lb/>
einem solchen Schritte erwarten, und mit Mißtrauen auf die eigenen<lb/>
Staatsbehörden blicken.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1505"> Demungeachtet ist Lübeck eine sehr sehenswerthe Stadt, und ich<lb/>
bereue es wahrlich nicht, ein paar Tage in ihr verweilt zu haben.<lb/>
Schon die Umgebung ist reizend, sie trägt den üppigen, fruchtbaren<lb/>
Charakter Holsteins. Man bekommt in Lübeck recht einen Begriff<lb/>
von dein Städteleben des Mittelalters. Wie eigenthümlich wirkt die<lb/>
Architektonik dieser engen &#x201E;Gruben" auf ein Auge, welches den cha¬<lb/>
rakterlosen Baustyl der breiten Berliner Straßen gewohnt ist. Unsere<lb/>
Vorfahren waren derbe, ehrliche Leute, sie liebten das Maskiren<lb/>
nicht, auch nicht an ihren Häusern. Darum wichen sie denn auch<lb/>
in der Form ihrer Häusergiebel nicht von der natürlichen Form des<lb/>
Daches ab, und bauten nicht in die Breite, nicht in'S Horizontale,<lb/>
sondern empor, in ihren Häusern, wie in ihren Kirchen! Man muß<lb/>
diese Lübeckschen Straßen mit ihren starken, emporstrebenden Trep¬<lb/>
pengiebeln im Lichte der sinkenden Sonne sehen, &#x2014; eS ist ein wun¬<lb/>
derbarer, tief ergreifender malerischer Anblick!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1506" next="#ID_1507"> Eine der großartigsten und interessantesten Kirchen Deutschlands<lb/>
und überhaupt aller, die ich jemals gesehen habe, ist unzweifelhaft</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0568] dem gewiß eben so sehr an der Bürgerschaft, welche sich nicht über vermoderte Corporationsprivilegien und Interesse!, zu erheben weiß und allenthalben indifferent ist, wo es nicht auf die Steuern an¬ kommt. Daß eine schlechte Verfassung die Finanzen ruinirt, ist all¬ gemein anerkannt, hier scheint man Nichts davon wissen^ zu wollen. Die Lübeck'sche Verfassung hemmt durch ihren zünftigen Egoismus die freie Entwicklung aller Kräfte; der Industrie ist durch sie alles Terrain genommen, und dem Handel werden die größten Hemmnisse in den Weg gelegt. Man klagte denn auch bei Tisch über den immer tiefer sinken¬ den Preis der Häuser, welche man für den zehnten bis zwölften Theil ihres Werthes kaufen kann, und über die immer zunehmenden Banquerotte. Das Alles sind Symptome einer gefährlichen Krank¬ heit. Es wäre doch traurig, wenn Lübeck, eine der ehrwürdigsten Städte, die so manchem Sturme muthig getrotzt hat, ihre Souveräni¬ tät niederlegen und sich unter das Szepter eines Fürsten beugen müßte. Herr Geibel konnte jo hübsch singen: „Es herrscht kein Fürst, wo ich geboren." Im Volke freilich soll man nur Heil von einem solchen Schritte erwarten, und mit Mißtrauen auf die eigenen Staatsbehörden blicken. Demungeachtet ist Lübeck eine sehr sehenswerthe Stadt, und ich bereue es wahrlich nicht, ein paar Tage in ihr verweilt zu haben. Schon die Umgebung ist reizend, sie trägt den üppigen, fruchtbaren Charakter Holsteins. Man bekommt in Lübeck recht einen Begriff von dein Städteleben des Mittelalters. Wie eigenthümlich wirkt die Architektonik dieser engen „Gruben" auf ein Auge, welches den cha¬ rakterlosen Baustyl der breiten Berliner Straßen gewohnt ist. Unsere Vorfahren waren derbe, ehrliche Leute, sie liebten das Maskiren nicht, auch nicht an ihren Häusern. Darum wichen sie denn auch in der Form ihrer Häusergiebel nicht von der natürlichen Form des Daches ab, und bauten nicht in die Breite, nicht in'S Horizontale, sondern empor, in ihren Häusern, wie in ihren Kirchen! Man muß diese Lübeckschen Straßen mit ihren starken, emporstrebenden Trep¬ pengiebeln im Lichte der sinkenden Sonne sehen, — eS ist ein wun¬ derbarer, tief ergreifender malerischer Anblick! Eine der großartigsten und interessantesten Kirchen Deutschlands und überhaupt aller, die ich jemals gesehen habe, ist unzweifelhaft

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/568
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/568>, abgerufen am 22.12.2024.