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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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gelangen, daß die dramatische Poesie noch etwas Höheres hervorzu¬
bringen vermöge, als Halm'sche Tragantsiguren.

Ueber die Darstellung nur einige Worte. Ausgezeichnet war die
Enghaus in der Titelrolle, die sie in wahrhaft antikem Geist auf¬
faßte; ihr Spiel athmete eine Einfachheit, eine Größe und Innerlich¬
keit, daß man sich wie von einem Hauch aus jener Zeit überkommen
fühlte. Die Enghaus besitzt den seltenen Vortheil, daß ihr bei der
reichsten innern Begabung auch kein äußerliches Mittel versagt blieb:
ihre Gestalt ist von vollendeter plastischer Schönheit, ihr Organ ein
tiefer Alt von ungemeiner Kraft, Weichheit und Süße. Das Ein¬
zige, was diese Künstlerin (so nenne ich sie mit Bedacht, nicht der
hergebrachten Form wegen) ablegen sollte, ist das mitunter zu starke
Betonen der Endsylben; zwar entspringt dieser Fehler auch nur aus dem
Wunsch nach größtmöglicher Klarheit, aber er fällt darum nicht min¬
der auf, und Deutlichkeit laßt sich am Ende wohl auch auf andre
Weise erzielen. -- Den Brutus spielte Löwe die vier ersten Acte hin¬
durch in wirklich großartigem Style, im fünften ließ er sich wieder
zu den ungeregelten Ausbrüchen hinreißen, die oft seine beßten Lei¬
stungen entstellen. Ueber Mad. Rettich wage ich, da ich kein Arzt
bin, auch keinen Ausspruch zu fällen; dieses Spiel, das unendlich
mehr mit einem hysterischen Anfall, als mit einer Kunstleistung ge¬
mein hat, ist nicht mehr kritisch, sondern nur pathologisch zu beur¬
theilen. Noch selten hat die Unnatur über eine ursprünglich sehr be¬
vorzugte Organisation einen so vollständigen Sieg davongetragen wie
bei dieser Frau, die nicht mehr guten Morgen sagen kann, ohne in
eine Affectation und Gespreiztheit der unleidlichsten Art zu verfallen.
Herrn Lucas als Sertus nennend, möchte ich die Litaneiformel hinzu¬
fügen: Herr, erbarme dich unser! -- Die übrigen Rollen sind unbe¬
deutend und wurden auch auf gleiche Weise gespielt.

Noch in diesem Monat sott ein neues Stück, "die Kroncnwäch-
ter" von Otto Prechtler gegeben werden. Wenn es wahr ist, daß
zu großer lyrischer Schwung dem Dramatiker schade, so gibt uns
die vor Kurzem erschienene Gedichtsammlung desselben Verfassers die
Versicherung, daß er wenigstens von dieser Seite her Nichts zu fürch¬
ten habe. Man würde darin vergebens nach einem Naturlaut, einem
Herzenston hinhorchen. Daß die Verse nicht gerade schlecht sind, will
ich zugeben, aber wer macht denn noch schlechte Verse? Die Form
ist heut zu Tage so erstaunlich ausgebildet, daß es nicht so schwer ist,
sie nachzuahmen; allein was Keiner lehren und Keiner lernen kann,
geht nicht so mit in den Kauf, das strahlt über dem erwählten Haupt
wie ein flammender Stern, den das Wachsstümpchen fleißiger Be¬
mühung nicht ersetzen kann.

Die zwei ersten Vorstellungen der italienischen Oper haben die


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gelangen, daß die dramatische Poesie noch etwas Höheres hervorzu¬
bringen vermöge, als Halm'sche Tragantsiguren.

Ueber die Darstellung nur einige Worte. Ausgezeichnet war die
Enghaus in der Titelrolle, die sie in wahrhaft antikem Geist auf¬
faßte; ihr Spiel athmete eine Einfachheit, eine Größe und Innerlich¬
keit, daß man sich wie von einem Hauch aus jener Zeit überkommen
fühlte. Die Enghaus besitzt den seltenen Vortheil, daß ihr bei der
reichsten innern Begabung auch kein äußerliches Mittel versagt blieb:
ihre Gestalt ist von vollendeter plastischer Schönheit, ihr Organ ein
tiefer Alt von ungemeiner Kraft, Weichheit und Süße. Das Ein¬
zige, was diese Künstlerin (so nenne ich sie mit Bedacht, nicht der
hergebrachten Form wegen) ablegen sollte, ist das mitunter zu starke
Betonen der Endsylben; zwar entspringt dieser Fehler auch nur aus dem
Wunsch nach größtmöglicher Klarheit, aber er fällt darum nicht min¬
der auf, und Deutlichkeit laßt sich am Ende wohl auch auf andre
Weise erzielen. — Den Brutus spielte Löwe die vier ersten Acte hin¬
durch in wirklich großartigem Style, im fünften ließ er sich wieder
zu den ungeregelten Ausbrüchen hinreißen, die oft seine beßten Lei¬
stungen entstellen. Ueber Mad. Rettich wage ich, da ich kein Arzt
bin, auch keinen Ausspruch zu fällen; dieses Spiel, das unendlich
mehr mit einem hysterischen Anfall, als mit einer Kunstleistung ge¬
mein hat, ist nicht mehr kritisch, sondern nur pathologisch zu beur¬
theilen. Noch selten hat die Unnatur über eine ursprünglich sehr be¬
vorzugte Organisation einen so vollständigen Sieg davongetragen wie
bei dieser Frau, die nicht mehr guten Morgen sagen kann, ohne in
eine Affectation und Gespreiztheit der unleidlichsten Art zu verfallen.
Herrn Lucas als Sertus nennend, möchte ich die Litaneiformel hinzu¬
fügen: Herr, erbarme dich unser! — Die übrigen Rollen sind unbe¬
deutend und wurden auch auf gleiche Weise gespielt.

Noch in diesem Monat sott ein neues Stück, „die Kroncnwäch-
ter" von Otto Prechtler gegeben werden. Wenn es wahr ist, daß
zu großer lyrischer Schwung dem Dramatiker schade, so gibt uns
die vor Kurzem erschienene Gedichtsammlung desselben Verfassers die
Versicherung, daß er wenigstens von dieser Seite her Nichts zu fürch¬
ten habe. Man würde darin vergebens nach einem Naturlaut, einem
Herzenston hinhorchen. Daß die Verse nicht gerade schlecht sind, will
ich zugeben, aber wer macht denn noch schlechte Verse? Die Form
ist heut zu Tage so erstaunlich ausgebildet, daß es nicht so schwer ist,
sie nachzuahmen; allein was Keiner lehren und Keiner lernen kann,
geht nicht so mit in den Kauf, das strahlt über dem erwählten Haupt
wie ein flammender Stern, den das Wachsstümpchen fleißiger Be¬
mühung nicht ersetzen kann.

Die zwei ersten Vorstellungen der italienischen Oper haben die


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[0547] gelangen, daß die dramatische Poesie noch etwas Höheres hervorzu¬ bringen vermöge, als Halm'sche Tragantsiguren. Ueber die Darstellung nur einige Worte. Ausgezeichnet war die Enghaus in der Titelrolle, die sie in wahrhaft antikem Geist auf¬ faßte; ihr Spiel athmete eine Einfachheit, eine Größe und Innerlich¬ keit, daß man sich wie von einem Hauch aus jener Zeit überkommen fühlte. Die Enghaus besitzt den seltenen Vortheil, daß ihr bei der reichsten innern Begabung auch kein äußerliches Mittel versagt blieb: ihre Gestalt ist von vollendeter plastischer Schönheit, ihr Organ ein tiefer Alt von ungemeiner Kraft, Weichheit und Süße. Das Ein¬ zige, was diese Künstlerin (so nenne ich sie mit Bedacht, nicht der hergebrachten Form wegen) ablegen sollte, ist das mitunter zu starke Betonen der Endsylben; zwar entspringt dieser Fehler auch nur aus dem Wunsch nach größtmöglicher Klarheit, aber er fällt darum nicht min¬ der auf, und Deutlichkeit laßt sich am Ende wohl auch auf andre Weise erzielen. — Den Brutus spielte Löwe die vier ersten Acte hin¬ durch in wirklich großartigem Style, im fünften ließ er sich wieder zu den ungeregelten Ausbrüchen hinreißen, die oft seine beßten Lei¬ stungen entstellen. Ueber Mad. Rettich wage ich, da ich kein Arzt bin, auch keinen Ausspruch zu fällen; dieses Spiel, das unendlich mehr mit einem hysterischen Anfall, als mit einer Kunstleistung ge¬ mein hat, ist nicht mehr kritisch, sondern nur pathologisch zu beur¬ theilen. Noch selten hat die Unnatur über eine ursprünglich sehr be¬ vorzugte Organisation einen so vollständigen Sieg davongetragen wie bei dieser Frau, die nicht mehr guten Morgen sagen kann, ohne in eine Affectation und Gespreiztheit der unleidlichsten Art zu verfallen. Herrn Lucas als Sertus nennend, möchte ich die Litaneiformel hinzu¬ fügen: Herr, erbarme dich unser! — Die übrigen Rollen sind unbe¬ deutend und wurden auch auf gleiche Weise gespielt. Noch in diesem Monat sott ein neues Stück, „die Kroncnwäch- ter" von Otto Prechtler gegeben werden. Wenn es wahr ist, daß zu großer lyrischer Schwung dem Dramatiker schade, so gibt uns die vor Kurzem erschienene Gedichtsammlung desselben Verfassers die Versicherung, daß er wenigstens von dieser Seite her Nichts zu fürch¬ ten habe. Man würde darin vergebens nach einem Naturlaut, einem Herzenston hinhorchen. Daß die Verse nicht gerade schlecht sind, will ich zugeben, aber wer macht denn noch schlechte Verse? Die Form ist heut zu Tage so erstaunlich ausgebildet, daß es nicht so schwer ist, sie nachzuahmen; allein was Keiner lehren und Keiner lernen kann, geht nicht so mit in den Kauf, das strahlt über dem erwählten Haupt wie ein flammender Stern, den das Wachsstümpchen fleißiger Be¬ mühung nicht ersetzen kann. Die zwei ersten Vorstellungen der italienischen Oper haben die 70-i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/547>, abgerufen am 29.06.2024.