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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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zweiundachtzigsten Jahre gestorbener Vater war ein starker, ehrenfester,
freimüthiger, nwas leidenschaftlicher Mann, von viel natürlichen Ga¬
ben, und wie in Allem, so auch in der Religion Naturalist, dabei
Zeitungen- und Bücherfeind, obwohl er in seinen Knabenjahren mit
dein späteren gelehrten Generalsuperintendenten des Herzogthums
Schleswig-Holstein, Adler, durch die lateinische Schule gelaufen war
und ich die ersten lateinischen Brocken scherzhaft aus seinem Munde
lernte. Von Verfassungen hatte er keinen Begriff, aber er war in
seiner Person gründlicher Republikaner, wie noch jetzt mein Bruder,
der sein Ideal in den nordamerikanischen Freistaaten sieht. Meine
ebenfalls verstorbene Mutter war die Tochter eines Advocaten aus
dem hannoverschen Flecken Ottersberg bei Bremen, nie rastende Haus¬
frau und ein liebes, treues, frommes heiter ernstes Gemüth, aller
Armen Mutter und für ihre Kinder, namentlich für mich, ihren Lieb¬
ling, die aufopfernde Liebe selbst. Nur zufällig kam ich in meinem
dreizehnten bis vierzehnten Jahre auf das Altonaer Gymnasium, da
ich erst eine Stadtschule, dann eine Handelsschule besuchte und zu
einem Vetter in Baltimore aufs Comtoir wollte. Die Erinnerungen
meiner Knabenzeit bis zu diesem Alter sind rosig. Mein Gedächtniß
geht bis zur Pockenimpfung zurück. Ich war ein großer Taugenichts,
Perückenzupfer meiner Lehrer, Dachkletterer, Generalanführer in den
Schlachten der Gassenjungen, doch gutmüthig und bei Groß und
Klein beliebt. Daß ich neben dem Schulbesuche und dem frohen
tollen Wesen heimlich immatriculirter Studiosus einer Leihbibliothek
war, versteht sich von selbst. Meine Gymnasiastenjahrc wären ohne
Zweifel fruchtbarer für mich gewesen, falls nicht die aufgelöste Zucht,
die Unfähigkeit mancher Lehrer und der todte Buchstabenbetrieb An¬
derer' meinen guten Willen paralysirt hätten; doch verwahrte mich
das heiter glückliche Familienleben, das ich führte, vor allem Rohen.
Meinen Schwestern verdanke ich viel, so wie ihren weiblichen Be¬
kanntschaften und den Hausfreunden; ich kann sagen, daß ich unter
Gesang, Guitarrenspiel, hübschen Mädchen, froh unschuldigen Tänzen,
belehrenden Gesprächen die Abende dieser unvergeßlichen Zeit hinge¬
bracht habe. Ostern 1822 bezog ich die Universität Kiel, nachdem
ich eine gereimte deutsche Abschiedsrcdc im Hörsaale des Gymnasiums
unter manchen Thränen der weiblichen Zuhörerschaft gehalten hatte.
Den Anforderungen, diese Rede in Druck zu geben, widerstand ich


zweiundachtzigsten Jahre gestorbener Vater war ein starker, ehrenfester,
freimüthiger, nwas leidenschaftlicher Mann, von viel natürlichen Ga¬
ben, und wie in Allem, so auch in der Religion Naturalist, dabei
Zeitungen- und Bücherfeind, obwohl er in seinen Knabenjahren mit
dein späteren gelehrten Generalsuperintendenten des Herzogthums
Schleswig-Holstein, Adler, durch die lateinische Schule gelaufen war
und ich die ersten lateinischen Brocken scherzhaft aus seinem Munde
lernte. Von Verfassungen hatte er keinen Begriff, aber er war in
seiner Person gründlicher Republikaner, wie noch jetzt mein Bruder,
der sein Ideal in den nordamerikanischen Freistaaten sieht. Meine
ebenfalls verstorbene Mutter war die Tochter eines Advocaten aus
dem hannoverschen Flecken Ottersberg bei Bremen, nie rastende Haus¬
frau und ein liebes, treues, frommes heiter ernstes Gemüth, aller
Armen Mutter und für ihre Kinder, namentlich für mich, ihren Lieb¬
ling, die aufopfernde Liebe selbst. Nur zufällig kam ich in meinem
dreizehnten bis vierzehnten Jahre auf das Altonaer Gymnasium, da
ich erst eine Stadtschule, dann eine Handelsschule besuchte und zu
einem Vetter in Baltimore aufs Comtoir wollte. Die Erinnerungen
meiner Knabenzeit bis zu diesem Alter sind rosig. Mein Gedächtniß
geht bis zur Pockenimpfung zurück. Ich war ein großer Taugenichts,
Perückenzupfer meiner Lehrer, Dachkletterer, Generalanführer in den
Schlachten der Gassenjungen, doch gutmüthig und bei Groß und
Klein beliebt. Daß ich neben dem Schulbesuche und dem frohen
tollen Wesen heimlich immatriculirter Studiosus einer Leihbibliothek
war, versteht sich von selbst. Meine Gymnasiastenjahrc wären ohne
Zweifel fruchtbarer für mich gewesen, falls nicht die aufgelöste Zucht,
die Unfähigkeit mancher Lehrer und der todte Buchstabenbetrieb An¬
derer' meinen guten Willen paralysirt hätten; doch verwahrte mich
das heiter glückliche Familienleben, das ich führte, vor allem Rohen.
Meinen Schwestern verdanke ich viel, so wie ihren weiblichen Be¬
kanntschaften und den Hausfreunden; ich kann sagen, daß ich unter
Gesang, Guitarrenspiel, hübschen Mädchen, froh unschuldigen Tänzen,
belehrenden Gesprächen die Abende dieser unvergeßlichen Zeit hinge¬
bracht habe. Ostern 1822 bezog ich die Universität Kiel, nachdem
ich eine gereimte deutsche Abschiedsrcdc im Hörsaale des Gymnasiums
unter manchen Thränen der weiblichen Zuhörerschaft gehalten hatte.
Den Anforderungen, diese Rede in Druck zu geben, widerstand ich


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[0532] zweiundachtzigsten Jahre gestorbener Vater war ein starker, ehrenfester, freimüthiger, nwas leidenschaftlicher Mann, von viel natürlichen Ga¬ ben, und wie in Allem, so auch in der Religion Naturalist, dabei Zeitungen- und Bücherfeind, obwohl er in seinen Knabenjahren mit dein späteren gelehrten Generalsuperintendenten des Herzogthums Schleswig-Holstein, Adler, durch die lateinische Schule gelaufen war und ich die ersten lateinischen Brocken scherzhaft aus seinem Munde lernte. Von Verfassungen hatte er keinen Begriff, aber er war in seiner Person gründlicher Republikaner, wie noch jetzt mein Bruder, der sein Ideal in den nordamerikanischen Freistaaten sieht. Meine ebenfalls verstorbene Mutter war die Tochter eines Advocaten aus dem hannoverschen Flecken Ottersberg bei Bremen, nie rastende Haus¬ frau und ein liebes, treues, frommes heiter ernstes Gemüth, aller Armen Mutter und für ihre Kinder, namentlich für mich, ihren Lieb¬ ling, die aufopfernde Liebe selbst. Nur zufällig kam ich in meinem dreizehnten bis vierzehnten Jahre auf das Altonaer Gymnasium, da ich erst eine Stadtschule, dann eine Handelsschule besuchte und zu einem Vetter in Baltimore aufs Comtoir wollte. Die Erinnerungen meiner Knabenzeit bis zu diesem Alter sind rosig. Mein Gedächtniß geht bis zur Pockenimpfung zurück. Ich war ein großer Taugenichts, Perückenzupfer meiner Lehrer, Dachkletterer, Generalanführer in den Schlachten der Gassenjungen, doch gutmüthig und bei Groß und Klein beliebt. Daß ich neben dem Schulbesuche und dem frohen tollen Wesen heimlich immatriculirter Studiosus einer Leihbibliothek war, versteht sich von selbst. Meine Gymnasiastenjahrc wären ohne Zweifel fruchtbarer für mich gewesen, falls nicht die aufgelöste Zucht, die Unfähigkeit mancher Lehrer und der todte Buchstabenbetrieb An¬ derer' meinen guten Willen paralysirt hätten; doch verwahrte mich das heiter glückliche Familienleben, das ich führte, vor allem Rohen. Meinen Schwestern verdanke ich viel, so wie ihren weiblichen Be¬ kanntschaften und den Hausfreunden; ich kann sagen, daß ich unter Gesang, Guitarrenspiel, hübschen Mädchen, froh unschuldigen Tänzen, belehrenden Gesprächen die Abende dieser unvergeßlichen Zeit hinge¬ bracht habe. Ostern 1822 bezog ich die Universität Kiel, nachdem ich eine gereimte deutsche Abschiedsrcdc im Hörsaale des Gymnasiums unter manchen Thränen der weiblichen Zuhörerschaft gehalten hatte. Den Anforderungen, diese Rede in Druck zu geben, widerstand ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/532>, abgerufen am 29.06.2024.