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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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zu studire", so hat man wenig L-inn für die Witze Wiener Possenreißer
und die mehr oder minder glücklichen Waden hüpfender Ballettänze¬
rinnen. Einige ernstere Bemerkungen jedoch knüpfen sich an dieses
leichtfertige Thema. Es ist schon an und für sich wichtig, daß in
der Reichsstadt Ungarns, in Gegenwart eines auf seine Nationalität
so eifersüchtigen Reichstagskörpers, das Theater ein deutsches ist.
Dies ist ein Zugeständniß an deutsche Bildung und kann, klug be¬
nützt, ein Mittel zur Verbreitung derselben und zur Erweckung und
Erhaltung von Sympathien werden, welche der österreichischen Re¬
gierung und Deutschland überhaupt sehr wünschenswert!) sind. Wie
sehr hat das Uebergewicht, welches die französische Literatur und die
französische Bühne noch im vorigen Jahrhundert in Deutschland hatten,
allen politischen Bestrebungen Frankreichs bei uns vorgebaut! Wie
viel freundliche Sympathien hält dies jetzt noch rege in einer Zeit,
wo unsere Literatur bereits emancipirt und unser Nationalgeist we¬
nigstens auf dem Wege der Emancipation sich befindet. Bei einen"
so primitiven und naturwüchsigen Volke, wie die Ungarn sind, bei
ihrer feurigen, schnell erregten Einbildungskraft, bei ihrer Hinneigung
zu allem Phantastischen und Theatralischen in Sitten, Trachten und
Ceremonien, da ist das Theater von weit eindringlicherer Wirkung,
als bei uns kälteren Deutschen^ die wir in unserer reflectiven Natur
dem Pathos der Schau-, wie der Rednerbühne ziemlich abgeneigt
sind. Unter den Gebildeten in Ungarn ist unser Schiller eben so
populär, wie in Deutschland; ja noch mehr, dort, wo es keine He-
gel'sche Objectivetät gibt; dort, wo keine norddeutsche kritische Nüch¬
ternheit jede Begeisterung zerfrißt und auflöst, dort ist diese Begeiste¬
rung vollkrästiger und unbeschränkter. Selbst jene Schiller'schen Epi¬
gonen, welche die deutsche Kritik in zweite und dritte Reihe stellt:
Zacharias Werner, Müllner, Grillparzer, Raupach und Halm finden
durch ihre romantische Richtung, durch den pathetischen Gang ihrer
Rede zahlreiche und warme Anhänger. Die Romantik ist noch nicht
todt, ob auch die deutsche Kritik ihr die Grabschrift schreibt; sie ist
nicht todt in Frankreich, das Victor Hugo an die Spitze seiner
lebenden Dichter stellt; sie ist nicht todt in England, das Scott und
Byron in immer neuen Auflagen bringt; sie ist nicht todt in Deutsch-
land, das beweisen Lenau und Grün; -ja, um das neueste Beispiel
zu wählen, das beweist der Erfolg, den der Roman des Pfarrers


zu studire», so hat man wenig L-inn für die Witze Wiener Possenreißer
und die mehr oder minder glücklichen Waden hüpfender Ballettänze¬
rinnen. Einige ernstere Bemerkungen jedoch knüpfen sich an dieses
leichtfertige Thema. Es ist schon an und für sich wichtig, daß in
der Reichsstadt Ungarns, in Gegenwart eines auf seine Nationalität
so eifersüchtigen Reichstagskörpers, das Theater ein deutsches ist.
Dies ist ein Zugeständniß an deutsche Bildung und kann, klug be¬
nützt, ein Mittel zur Verbreitung derselben und zur Erweckung und
Erhaltung von Sympathien werden, welche der österreichischen Re¬
gierung und Deutschland überhaupt sehr wünschenswert!) sind. Wie
sehr hat das Uebergewicht, welches die französische Literatur und die
französische Bühne noch im vorigen Jahrhundert in Deutschland hatten,
allen politischen Bestrebungen Frankreichs bei uns vorgebaut! Wie
viel freundliche Sympathien hält dies jetzt noch rege in einer Zeit,
wo unsere Literatur bereits emancipirt und unser Nationalgeist we¬
nigstens auf dem Wege der Emancipation sich befindet. Bei einen»
so primitiven und naturwüchsigen Volke, wie die Ungarn sind, bei
ihrer feurigen, schnell erregten Einbildungskraft, bei ihrer Hinneigung
zu allem Phantastischen und Theatralischen in Sitten, Trachten und
Ceremonien, da ist das Theater von weit eindringlicherer Wirkung,
als bei uns kälteren Deutschen^ die wir in unserer reflectiven Natur
dem Pathos der Schau-, wie der Rednerbühne ziemlich abgeneigt
sind. Unter den Gebildeten in Ungarn ist unser Schiller eben so
populär, wie in Deutschland; ja noch mehr, dort, wo es keine He-
gel'sche Objectivetät gibt; dort, wo keine norddeutsche kritische Nüch¬
ternheit jede Begeisterung zerfrißt und auflöst, dort ist diese Begeiste¬
rung vollkrästiger und unbeschränkter. Selbst jene Schiller'schen Epi¬
gonen, welche die deutsche Kritik in zweite und dritte Reihe stellt:
Zacharias Werner, Müllner, Grillparzer, Raupach und Halm finden
durch ihre romantische Richtung, durch den pathetischen Gang ihrer
Rede zahlreiche und warme Anhänger. Die Romantik ist noch nicht
todt, ob auch die deutsche Kritik ihr die Grabschrift schreibt; sie ist
nicht todt in Frankreich, das Victor Hugo an die Spitze seiner
lebenden Dichter stellt; sie ist nicht todt in England, das Scott und
Byron in immer neuen Auflagen bringt; sie ist nicht todt in Deutsch-
land, das beweisen Lenau und Grün; -ja, um das neueste Beispiel
zu wählen, das beweist der Erfolg, den der Roman des Pfarrers


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[0525] zu studire», so hat man wenig L-inn für die Witze Wiener Possenreißer und die mehr oder minder glücklichen Waden hüpfender Ballettänze¬ rinnen. Einige ernstere Bemerkungen jedoch knüpfen sich an dieses leichtfertige Thema. Es ist schon an und für sich wichtig, daß in der Reichsstadt Ungarns, in Gegenwart eines auf seine Nationalität so eifersüchtigen Reichstagskörpers, das Theater ein deutsches ist. Dies ist ein Zugeständniß an deutsche Bildung und kann, klug be¬ nützt, ein Mittel zur Verbreitung derselben und zur Erweckung und Erhaltung von Sympathien werden, welche der österreichischen Re¬ gierung und Deutschland überhaupt sehr wünschenswert!) sind. Wie sehr hat das Uebergewicht, welches die französische Literatur und die französische Bühne noch im vorigen Jahrhundert in Deutschland hatten, allen politischen Bestrebungen Frankreichs bei uns vorgebaut! Wie viel freundliche Sympathien hält dies jetzt noch rege in einer Zeit, wo unsere Literatur bereits emancipirt und unser Nationalgeist we¬ nigstens auf dem Wege der Emancipation sich befindet. Bei einen» so primitiven und naturwüchsigen Volke, wie die Ungarn sind, bei ihrer feurigen, schnell erregten Einbildungskraft, bei ihrer Hinneigung zu allem Phantastischen und Theatralischen in Sitten, Trachten und Ceremonien, da ist das Theater von weit eindringlicherer Wirkung, als bei uns kälteren Deutschen^ die wir in unserer reflectiven Natur dem Pathos der Schau-, wie der Rednerbühne ziemlich abgeneigt sind. Unter den Gebildeten in Ungarn ist unser Schiller eben so populär, wie in Deutschland; ja noch mehr, dort, wo es keine He- gel'sche Objectivetät gibt; dort, wo keine norddeutsche kritische Nüch¬ ternheit jede Begeisterung zerfrißt und auflöst, dort ist diese Begeiste¬ rung vollkrästiger und unbeschränkter. Selbst jene Schiller'schen Epi¬ gonen, welche die deutsche Kritik in zweite und dritte Reihe stellt: Zacharias Werner, Müllner, Grillparzer, Raupach und Halm finden durch ihre romantische Richtung, durch den pathetischen Gang ihrer Rede zahlreiche und warme Anhänger. Die Romantik ist noch nicht todt, ob auch die deutsche Kritik ihr die Grabschrift schreibt; sie ist nicht todt in Frankreich, das Victor Hugo an die Spitze seiner lebenden Dichter stellt; sie ist nicht todt in England, das Scott und Byron in immer neuen Auflagen bringt; sie ist nicht todt in Deutsch- land, das beweisen Lenau und Grün; -ja, um das neueste Beispiel zu wählen, das beweist der Erfolg, den der Roman des Pfarrers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/525>, abgerufen am 29.06.2024.