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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Wer die Frage", die ich hier nur berühren kann, gründlich stu-
diren will, dem empfehle ich, Schlegel's dramaturgische Vorlesungen
mit Villemain's Abhandlungen über die Literatur und seinen Aussatz
über Shakspeare in den Naiv^iuix mol-niA"" tÜ8de"etc>it<.>8 et liuv-
iuiic-8 zu vergleichen. Man wird hier sehen, in welchen Punkten
diese beiden trefflichen Kritiker sich nähern und in welchen sie von einan¬
der abweichen. Villemain scheint nur, wenn auch nicht unmittelbar, aus
der von Schlegel herrührenden geistigen Bewegung hervorzugehen.
Beide haben für das classische Griechenthum eine gleich lebhafte Be¬
geisterung, und beide haben es gründlich studirt. Villemain, obgleich
er Schlegel's Ansicht von dem gänzlichen Mangel an Originalität in
dem französischen Drama des siebzehnten Jahrhunderts entschieden
bekämpft und "mit Verehrung" zu dem Genie Racine's aufblickt,
spricht ihm doch das echte Gefühl für das Antike ab, und will nicht
in seinen griechisch-französischen Tragödien sein Hauptwerk sehen.
Aber indem er dem romantischen Drama und dessen Repräsentanten
Shakspeare volle Gerechtigkeit widerfahren laßt, wendet er gegen
die Neuromantik alle von Schlegel gebrauchten Gründe. Er verhöhnt
jeden Shakspearefanatismus, der nach willkürlichen Theorien die Aus¬
wüchse eines großen Genies als seine schönsten und originellsten Neu¬
erungen darstellen möchte, s-)

In seinem vortrefflichen Gemälde der Werke des achtzehnten
Jahrhunderts hat Villemain, indem er auf die glücklichste Weise
Biographie, Geschichte und Kritik verbindet, alle früheren Kritiker
weit übertroffen. Erschienen sind von diesem Werke Villemains sechs
Bände; in dem ersten, der erst neuerdings herausgekommen ist, be¬
handelt er die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; in den fünf
anderen, die nach den Vorlesungen niedergeschrieben sind, einen
Theil des Mittelalters und die andere Hälfte deS achtzehnten Jahr¬
hunderts. In dem letzten Theil befinden sich jene schönen Abhand¬
lungen über die englischen und französischen Redner, die in Paris
ein Ereigniß waren und durch stenographische Abschriften in ganz
Frankreich verbreitet wurden.





*) Siehe den Artikel "Shakspeare und kein Ende" von F. G. Kühne im
vorige" Jahrgang der Grenzboten.

Wer die Frage», die ich hier nur berühren kann, gründlich stu-
diren will, dem empfehle ich, Schlegel's dramaturgische Vorlesungen
mit Villemain's Abhandlungen über die Literatur und seinen Aussatz
über Shakspeare in den Naiv^iuix mol-niA«« tÜ8de«etc>it<.>8 et liuv-
iuiic-8 zu vergleichen. Man wird hier sehen, in welchen Punkten
diese beiden trefflichen Kritiker sich nähern und in welchen sie von einan¬
der abweichen. Villemain scheint nur, wenn auch nicht unmittelbar, aus
der von Schlegel herrührenden geistigen Bewegung hervorzugehen.
Beide haben für das classische Griechenthum eine gleich lebhafte Be¬
geisterung, und beide haben es gründlich studirt. Villemain, obgleich
er Schlegel's Ansicht von dem gänzlichen Mangel an Originalität in
dem französischen Drama des siebzehnten Jahrhunderts entschieden
bekämpft und „mit Verehrung" zu dem Genie Racine's aufblickt,
spricht ihm doch das echte Gefühl für das Antike ab, und will nicht
in seinen griechisch-französischen Tragödien sein Hauptwerk sehen.
Aber indem er dem romantischen Drama und dessen Repräsentanten
Shakspeare volle Gerechtigkeit widerfahren laßt, wendet er gegen
die Neuromantik alle von Schlegel gebrauchten Gründe. Er verhöhnt
jeden Shakspearefanatismus, der nach willkürlichen Theorien die Aus¬
wüchse eines großen Genies als seine schönsten und originellsten Neu¬
erungen darstellen möchte, s-)

In seinem vortrefflichen Gemälde der Werke des achtzehnten
Jahrhunderts hat Villemain, indem er auf die glücklichste Weise
Biographie, Geschichte und Kritik verbindet, alle früheren Kritiker
weit übertroffen. Erschienen sind von diesem Werke Villemains sechs
Bände; in dem ersten, der erst neuerdings herausgekommen ist, be¬
handelt er die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; in den fünf
anderen, die nach den Vorlesungen niedergeschrieben sind, einen
Theil des Mittelalters und die andere Hälfte deS achtzehnten Jahr¬
hunderts. In dem letzten Theil befinden sich jene schönen Abhand¬
lungen über die englischen und französischen Redner, die in Paris
ein Ereigniß waren und durch stenographische Abschriften in ganz
Frankreich verbreitet wurden.





*) Siehe den Artikel „Shakspeare und kein Ende" von F. G. Kühne im
vorige» Jahrgang der Grenzboten.
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[0478] Wer die Frage», die ich hier nur berühren kann, gründlich stu- diren will, dem empfehle ich, Schlegel's dramaturgische Vorlesungen mit Villemain's Abhandlungen über die Literatur und seinen Aussatz über Shakspeare in den Naiv^iuix mol-niA«« tÜ8de«etc>it<.>8 et liuv- iuiic-8 zu vergleichen. Man wird hier sehen, in welchen Punkten diese beiden trefflichen Kritiker sich nähern und in welchen sie von einan¬ der abweichen. Villemain scheint nur, wenn auch nicht unmittelbar, aus der von Schlegel herrührenden geistigen Bewegung hervorzugehen. Beide haben für das classische Griechenthum eine gleich lebhafte Be¬ geisterung, und beide haben es gründlich studirt. Villemain, obgleich er Schlegel's Ansicht von dem gänzlichen Mangel an Originalität in dem französischen Drama des siebzehnten Jahrhunderts entschieden bekämpft und „mit Verehrung" zu dem Genie Racine's aufblickt, spricht ihm doch das echte Gefühl für das Antike ab, und will nicht in seinen griechisch-französischen Tragödien sein Hauptwerk sehen. Aber indem er dem romantischen Drama und dessen Repräsentanten Shakspeare volle Gerechtigkeit widerfahren laßt, wendet er gegen die Neuromantik alle von Schlegel gebrauchten Gründe. Er verhöhnt jeden Shakspearefanatismus, der nach willkürlichen Theorien die Aus¬ wüchse eines großen Genies als seine schönsten und originellsten Neu¬ erungen darstellen möchte, s-) In seinem vortrefflichen Gemälde der Werke des achtzehnten Jahrhunderts hat Villemain, indem er auf die glücklichste Weise Biographie, Geschichte und Kritik verbindet, alle früheren Kritiker weit übertroffen. Erschienen sind von diesem Werke Villemains sechs Bände; in dem ersten, der erst neuerdings herausgekommen ist, be¬ handelt er die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; in den fünf anderen, die nach den Vorlesungen niedergeschrieben sind, einen Theil des Mittelalters und die andere Hälfte deS achtzehnten Jahr¬ hunderts. In dem letzten Theil befinden sich jene schönen Abhand¬ lungen über die englischen und französischen Redner, die in Paris ein Ereigniß waren und durch stenographische Abschriften in ganz Frankreich verbreitet wurden. *) Siehe den Artikel „Shakspeare und kein Ende" von F. G. Kühne im vorige» Jahrgang der Grenzboten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/478>, abgerufen am 29.06.2024.