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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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ihm zu folgen, und er siel. Villemain trat wieder mit Guizot in
das Ministerium, in dem er sich noch befindet. Die Diskussionen über
die Freiheit des Unterrichts, welche Herr Villemain im Verlauf der
diesjährigen Kammersitzung zu bestehen hat, werden wohl den wich¬
tigsten Mittelpunkt im Leben dieses Staatsmannes bilden. Wir wollen
daher nicht vorgreifen und uns begnügen, ein Resum" des politischen
und literarischen Charakters, wie er bisher uns erschienen, zu liefern.

Die politischen Meinungen Villemainö scheinen sich in gleichem
Schritt mit seinen literarischen entwickelt zu haben. In beiden ist er
immer mit der Zeit fortgegangen, ohne sie zu überholen. Abenteu¬
rer und Wagehälse im geistigen Gebiete haben ihre schöne Seite
der Originalität und der Energie, aber auch ihre schwache Seite, die
sich in der Politik durch chimärische Pläne, in der Literatur durch
Absurditäten zeigt. Beides, politische Chimären, wie literarische Ab¬
surditäten, sind Villemains geistiger Richtung geradezu entgegengesetzt.
Seine lebhafte Phantasie findet einen so gewaltigen Schwerpunkt in
seinem Verstände, daß es ihm unmöglich ist, ein kühner Neuerer zu sein.

In der großen geistigen Bewegung der Zeit wird man Ville¬
main immer gleich weit entfernt von den Ungestümen und den Lang¬
samer finden. Auch in der Politik vereint er die Liebe zur Ordnung
und die Liebe zur Freiheit in einen Glaubenssatz, der sich auf die
drei Principien: Nepräsentativmonarchie, Preßfreiheit und Geschwor¬
nengerichte, gründet; und nach der Julirevolution, als der Grundlage
seines politischen Glaubens eine Erschütterung zu drohen schien, trennte er
sich von seinen alten Freunden, um auf der Tribüne der Pairskam-
mer dieselben Principien zu vertheidigen, für die er unter dem Mi¬
nisterium Villele vom Lehrstuhl des Professors und in der Akademie
gekämpft hatte, wo er eine Petition um Abschaffung der Censur ge¬
meinschaftlich mit Chateaubriand und Lacretelle redigirte. Allerdings
haben ihn die Septembergesetze nicht abgehalten, ein Portefeuille an¬
zunehmen, aber er hat sie doch wenigstens bekämpft.

Auch in der Literatur weiß Villemain, indem er sich von den Clas-
sikern und den Romantikern gleich weit entfernt hält, mit festem Schritt
zwischen Laharpe und Schlegel geht, und den geschmackvollen Styl
der alten und die Gedanken der neuen Schule sich aneignet, sich den
alten Fesseln des classischen Styls zu fügen, aber immer nur, um
dafür die Klarheit der Form zu erringen.


ihm zu folgen, und er siel. Villemain trat wieder mit Guizot in
das Ministerium, in dem er sich noch befindet. Die Diskussionen über
die Freiheit des Unterrichts, welche Herr Villemain im Verlauf der
diesjährigen Kammersitzung zu bestehen hat, werden wohl den wich¬
tigsten Mittelpunkt im Leben dieses Staatsmannes bilden. Wir wollen
daher nicht vorgreifen und uns begnügen, ein Resum« des politischen
und literarischen Charakters, wie er bisher uns erschienen, zu liefern.

Die politischen Meinungen Villemainö scheinen sich in gleichem
Schritt mit seinen literarischen entwickelt zu haben. In beiden ist er
immer mit der Zeit fortgegangen, ohne sie zu überholen. Abenteu¬
rer und Wagehälse im geistigen Gebiete haben ihre schöne Seite
der Originalität und der Energie, aber auch ihre schwache Seite, die
sich in der Politik durch chimärische Pläne, in der Literatur durch
Absurditäten zeigt. Beides, politische Chimären, wie literarische Ab¬
surditäten, sind Villemains geistiger Richtung geradezu entgegengesetzt.
Seine lebhafte Phantasie findet einen so gewaltigen Schwerpunkt in
seinem Verstände, daß es ihm unmöglich ist, ein kühner Neuerer zu sein.

In der großen geistigen Bewegung der Zeit wird man Ville¬
main immer gleich weit entfernt von den Ungestümen und den Lang¬
samer finden. Auch in der Politik vereint er die Liebe zur Ordnung
und die Liebe zur Freiheit in einen Glaubenssatz, der sich auf die
drei Principien: Nepräsentativmonarchie, Preßfreiheit und Geschwor¬
nengerichte, gründet; und nach der Julirevolution, als der Grundlage
seines politischen Glaubens eine Erschütterung zu drohen schien, trennte er
sich von seinen alten Freunden, um auf der Tribüne der Pairskam-
mer dieselben Principien zu vertheidigen, für die er unter dem Mi¬
nisterium Villele vom Lehrstuhl des Professors und in der Akademie
gekämpft hatte, wo er eine Petition um Abschaffung der Censur ge¬
meinschaftlich mit Chateaubriand und Lacretelle redigirte. Allerdings
haben ihn die Septembergesetze nicht abgehalten, ein Portefeuille an¬
zunehmen, aber er hat sie doch wenigstens bekämpft.

Auch in der Literatur weiß Villemain, indem er sich von den Clas-
sikern und den Romantikern gleich weit entfernt hält, mit festem Schritt
zwischen Laharpe und Schlegel geht, und den geschmackvollen Styl
der alten und die Gedanken der neuen Schule sich aneignet, sich den
alten Fesseln des classischen Styls zu fügen, aber immer nur, um
dafür die Klarheit der Form zu erringen.


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[0477] ihm zu folgen, und er siel. Villemain trat wieder mit Guizot in das Ministerium, in dem er sich noch befindet. Die Diskussionen über die Freiheit des Unterrichts, welche Herr Villemain im Verlauf der diesjährigen Kammersitzung zu bestehen hat, werden wohl den wich¬ tigsten Mittelpunkt im Leben dieses Staatsmannes bilden. Wir wollen daher nicht vorgreifen und uns begnügen, ein Resum« des politischen und literarischen Charakters, wie er bisher uns erschienen, zu liefern. Die politischen Meinungen Villemainö scheinen sich in gleichem Schritt mit seinen literarischen entwickelt zu haben. In beiden ist er immer mit der Zeit fortgegangen, ohne sie zu überholen. Abenteu¬ rer und Wagehälse im geistigen Gebiete haben ihre schöne Seite der Originalität und der Energie, aber auch ihre schwache Seite, die sich in der Politik durch chimärische Pläne, in der Literatur durch Absurditäten zeigt. Beides, politische Chimären, wie literarische Ab¬ surditäten, sind Villemains geistiger Richtung geradezu entgegengesetzt. Seine lebhafte Phantasie findet einen so gewaltigen Schwerpunkt in seinem Verstände, daß es ihm unmöglich ist, ein kühner Neuerer zu sein. In der großen geistigen Bewegung der Zeit wird man Ville¬ main immer gleich weit entfernt von den Ungestümen und den Lang¬ samer finden. Auch in der Politik vereint er die Liebe zur Ordnung und die Liebe zur Freiheit in einen Glaubenssatz, der sich auf die drei Principien: Nepräsentativmonarchie, Preßfreiheit und Geschwor¬ nengerichte, gründet; und nach der Julirevolution, als der Grundlage seines politischen Glaubens eine Erschütterung zu drohen schien, trennte er sich von seinen alten Freunden, um auf der Tribüne der Pairskam- mer dieselben Principien zu vertheidigen, für die er unter dem Mi¬ nisterium Villele vom Lehrstuhl des Professors und in der Akademie gekämpft hatte, wo er eine Petition um Abschaffung der Censur ge¬ meinschaftlich mit Chateaubriand und Lacretelle redigirte. Allerdings haben ihn die Septembergesetze nicht abgehalten, ein Portefeuille an¬ zunehmen, aber er hat sie doch wenigstens bekämpft. Auch in der Literatur weiß Villemain, indem er sich von den Clas- sikern und den Romantikern gleich weit entfernt hält, mit festem Schritt zwischen Laharpe und Schlegel geht, und den geschmackvollen Styl der alten und die Gedanken der neuen Schule sich aneignet, sich den alten Fesseln des classischen Styls zu fügen, aber immer nur, um dafür die Klarheit der Form zu erringen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/477>, abgerufen am 29.06.2024.