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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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an einen hohen Adeligen, an einen Banquier, an einen hochgestellten
Beamten. Du gibst sie alle ab, in der Hoffnung, die Stadt aus
den verschiedenartigsten Gesichtspunkten keimen zu lernen. Wie bitter
bist Dn getäuscht. Ueberall dieselbe Leier, die wie die Drehorgel
auf den Straßen, nur zwei oder drei Stücklein enthält: das, gest¬
rige Stück im Theater und das morgige Stück, die Oper, allenfalls
etwas von Ungarn, von der Censur, von den Actienspeculationen
auf der Börse, ein Geschichtchen von der geheimen Polizei, eine
Mordthat, eine (Um-um^ne sann^illeuse; aber von den großen Ta¬
gesfragen in Wissenschaft und Kunst, von Diskussionen über vergan¬
gene und zukünftige Geschichte -- wie spärlich verirrt sich ein solcher
Ton in diese Kreise. Und wie unbedeutend und stereotyp sind diese
Gesichter. Immer dieselben hier und dort. Wenige wissen etwas
Bedeutendes zu sagen und die es könnten, hüten sich doppelt davor
und werden durch ihre affectirte Schweigsamkeit doppelt unausstehlich.
Der geistige Mensch lebt in Berlin ein zweifaches Leben, wie der
materielle in Wien ein verdoppeltes lebt. Was gewinnt man in
Berlin nur an Zeit durch die vielen schlechten Bücher, die man zu
lesen erspart, weil man in Gesellschaft sie discutiren und analysiren
hört. In Wien muß man Alles lesen, weil man sich selbst sein Ur¬
theil bilden muß, weil man in der Gesellschaft nicht erfährt, was zu
lesen nothwendig und was zu ersparen, was gut, was jchlecht ist.
Man hört oft im deutschen, Buchhandel, daß Oesterreich noch den
Hauptabsatz des Büchermarktes bildet. Sollte die Ursache, warum die
Oesterreicher so viel Bücher kaufen, ohne Unterschied, ob schlechte oder
gute, nicht so eben angedeutet worden sein? --

Es ist charakteristisch, daß man keine zwei Seiten über Berlin
lesen kann, ohne auf die Namen Hegel und Schelling zu stoßen,
während man in Wien sogleich an Strauß und Lanner denkt. Die
beste Eigenthümlichkeit Berlins liegt im Kreise des Gedankens, im
Bereiche seiner Bildung; die Eigenthümlichkeiten Wiens liegen im
Bereiche der Sinne, des Genusses. Dort ist die höhere Gesellschaft
Repräsentant der Stadt, hier ist es das Volk, die bunte Menge.
Zwischen Strauß und Lanner einerseits und Hegel und Schelling an ¬
dererseits ist übrigens der Unterschied nicht so groß, als der Dünkel
der Philosophen sich einbildet. Von oben herab benützt man sie
doch zu Einem Zwecke; wenn auch die Form verschieden ist, die Ma-


an einen hohen Adeligen, an einen Banquier, an einen hochgestellten
Beamten. Du gibst sie alle ab, in der Hoffnung, die Stadt aus
den verschiedenartigsten Gesichtspunkten keimen zu lernen. Wie bitter
bist Dn getäuscht. Ueberall dieselbe Leier, die wie die Drehorgel
auf den Straßen, nur zwei oder drei Stücklein enthält: das, gest¬
rige Stück im Theater und das morgige Stück, die Oper, allenfalls
etwas von Ungarn, von der Censur, von den Actienspeculationen
auf der Börse, ein Geschichtchen von der geheimen Polizei, eine
Mordthat, eine (Um-um^ne sann^illeuse; aber von den großen Ta¬
gesfragen in Wissenschaft und Kunst, von Diskussionen über vergan¬
gene und zukünftige Geschichte — wie spärlich verirrt sich ein solcher
Ton in diese Kreise. Und wie unbedeutend und stereotyp sind diese
Gesichter. Immer dieselben hier und dort. Wenige wissen etwas
Bedeutendes zu sagen und die es könnten, hüten sich doppelt davor
und werden durch ihre affectirte Schweigsamkeit doppelt unausstehlich.
Der geistige Mensch lebt in Berlin ein zweifaches Leben, wie der
materielle in Wien ein verdoppeltes lebt. Was gewinnt man in
Berlin nur an Zeit durch die vielen schlechten Bücher, die man zu
lesen erspart, weil man in Gesellschaft sie discutiren und analysiren
hört. In Wien muß man Alles lesen, weil man sich selbst sein Ur¬
theil bilden muß, weil man in der Gesellschaft nicht erfährt, was zu
lesen nothwendig und was zu ersparen, was gut, was jchlecht ist.
Man hört oft im deutschen, Buchhandel, daß Oesterreich noch den
Hauptabsatz des Büchermarktes bildet. Sollte die Ursache, warum die
Oesterreicher so viel Bücher kaufen, ohne Unterschied, ob schlechte oder
gute, nicht so eben angedeutet worden sein? —

Es ist charakteristisch, daß man keine zwei Seiten über Berlin
lesen kann, ohne auf die Namen Hegel und Schelling zu stoßen,
während man in Wien sogleich an Strauß und Lanner denkt. Die
beste Eigenthümlichkeit Berlins liegt im Kreise des Gedankens, im
Bereiche seiner Bildung; die Eigenthümlichkeiten Wiens liegen im
Bereiche der Sinne, des Genusses. Dort ist die höhere Gesellschaft
Repräsentant der Stadt, hier ist es das Volk, die bunte Menge.
Zwischen Strauß und Lanner einerseits und Hegel und Schelling an ¬
dererseits ist übrigens der Unterschied nicht so groß, als der Dünkel
der Philosophen sich einbildet. Von oben herab benützt man sie
doch zu Einem Zwecke; wenn auch die Form verschieden ist, die Ma-


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[0468] an einen hohen Adeligen, an einen Banquier, an einen hochgestellten Beamten. Du gibst sie alle ab, in der Hoffnung, die Stadt aus den verschiedenartigsten Gesichtspunkten keimen zu lernen. Wie bitter bist Dn getäuscht. Ueberall dieselbe Leier, die wie die Drehorgel auf den Straßen, nur zwei oder drei Stücklein enthält: das, gest¬ rige Stück im Theater und das morgige Stück, die Oper, allenfalls etwas von Ungarn, von der Censur, von den Actienspeculationen auf der Börse, ein Geschichtchen von der geheimen Polizei, eine Mordthat, eine (Um-um^ne sann^illeuse; aber von den großen Ta¬ gesfragen in Wissenschaft und Kunst, von Diskussionen über vergan¬ gene und zukünftige Geschichte — wie spärlich verirrt sich ein solcher Ton in diese Kreise. Und wie unbedeutend und stereotyp sind diese Gesichter. Immer dieselben hier und dort. Wenige wissen etwas Bedeutendes zu sagen und die es könnten, hüten sich doppelt davor und werden durch ihre affectirte Schweigsamkeit doppelt unausstehlich. Der geistige Mensch lebt in Berlin ein zweifaches Leben, wie der materielle in Wien ein verdoppeltes lebt. Was gewinnt man in Berlin nur an Zeit durch die vielen schlechten Bücher, die man zu lesen erspart, weil man in Gesellschaft sie discutiren und analysiren hört. In Wien muß man Alles lesen, weil man sich selbst sein Ur¬ theil bilden muß, weil man in der Gesellschaft nicht erfährt, was zu lesen nothwendig und was zu ersparen, was gut, was jchlecht ist. Man hört oft im deutschen, Buchhandel, daß Oesterreich noch den Hauptabsatz des Büchermarktes bildet. Sollte die Ursache, warum die Oesterreicher so viel Bücher kaufen, ohne Unterschied, ob schlechte oder gute, nicht so eben angedeutet worden sein? — Es ist charakteristisch, daß man keine zwei Seiten über Berlin lesen kann, ohne auf die Namen Hegel und Schelling zu stoßen, während man in Wien sogleich an Strauß und Lanner denkt. Die beste Eigenthümlichkeit Berlins liegt im Kreise des Gedankens, im Bereiche seiner Bildung; die Eigenthümlichkeiten Wiens liegen im Bereiche der Sinne, des Genusses. Dort ist die höhere Gesellschaft Repräsentant der Stadt, hier ist es das Volk, die bunte Menge. Zwischen Strauß und Lanner einerseits und Hegel und Schelling an ¬ dererseits ist übrigens der Unterschied nicht so groß, als der Dünkel der Philosophen sich einbildet. Von oben herab benützt man sie doch zu Einem Zwecke; wenn auch die Form verschieden ist, die Ma-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/468>, abgerufen am 29.06.2024.