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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Argument geltend machen, das mir etwas schwer vom Herzen geht,
das aber doch seine Würdigung verlangt. In den letzten Kriegen
mit Frankreich haben sich die preußischen Truppen während ihrer
dortigen Anwesenheit einen so schlimmen Ruf erworben, daß les
Lo8!diz>le8 et les I'i'ussien" auf eine Stufe gestellt wurden. Noch
heute ist das Wort un ?rü8Sion in ganz Frankreich mit sehr unan¬
genehmen Nebenbegriffen verbunden. Alle Deutschen, welche sich län¬
gere Zeit in Paris aufhalten, erfahren allmälig, welche Vorurtheile
die Nationalerinnerung an dieses Wort knüpft, "r^es ^uti-ielii<-,i8
t;t.lie>in cle8 Kons em-in8°, nuÜ8 ces "ji,it)le8 <Ich?rü8hier8" -- und
gleich darauf tischt man Euch eine ganze Reihe von Anekdoten, wahre
und erfundene, auf, in welchen immer die Barbarei oder die Roh¬
heit irgend eines preußischen Soldaten mit pechschwarzen Farben
geschildert wird. Daß die Wunde, die Frankreich zu jener Zeit ge¬
schlagen wurde, noch heute in allen diesen Geschichten ihren Eiter
spritzt, ist freilich offenbar: daß aber leider auch viel Wahrheit jenen
Erzählungen zu Grunde liegt, kann man trotz alles deutschen Patrio¬
tismus nicht abläugnen. Die Preußen hatten an Frankreich Viel zu
rächen; aber die Oesterreicher nicht minder. Warum zeigte sich der
österreichische Soldat versöhnlicher und milder? Consequent beleuchtet
trägt dieses zur Charakteristik Wiens und Berlins Manches bei.

In so großem Vortheile nun das Wiener Volksleben dem Bar>
tirer gegenüber steht, in so großem Nachtheile steht das Leben der
höheren Gesellschaft Wiens im Vergleiche zu dem Berlins. Die Haupt¬
stadt Preußens, der Mittelpunkt deutscher Wissenschaft, der Versamm-
lungsplatz so vieler glänzenden Namen in Literatur und Kunst, die
Führerin des Zollvereins, verhältnißmäßig mit einer weit größeren
Oeffentlichkeit und Redefreiheit begabt, hat alle Elemente in sich, um
durch die verschiedenartigsten Fragen und Urtheile ihre Gesellschaft
zu beleben. Der wache Sinn, das schärfere Urtheil, der höhere Ehr¬
geiz, die gründlichere Bildung machen die Berliner Salons zu den
interessantesten in Deutschland. Wie abgestanden, ledern, langweilig
sind die Wiener dagegen, trotz ihres größeren Reichthums in Costü-
men und Tapeten. Nimmt man einige diplomatische Salons aus,
wie klein ist der Spielraum, auf welchem sich die Conversation der
sogenannten Gesellschaft in Wien bewegt. Du hast Empfehlungs¬
schreiben all verschiedenartig gestellte Personell, an einen Gelehrten,


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Argument geltend machen, das mir etwas schwer vom Herzen geht,
das aber doch seine Würdigung verlangt. In den letzten Kriegen
mit Frankreich haben sich die preußischen Truppen während ihrer
dortigen Anwesenheit einen so schlimmen Ruf erworben, daß les
Lo8!diz>le8 et les I'i'ussien« auf eine Stufe gestellt wurden. Noch
heute ist das Wort un ?rü8Sion in ganz Frankreich mit sehr unan¬
genehmen Nebenbegriffen verbunden. Alle Deutschen, welche sich län¬
gere Zeit in Paris aufhalten, erfahren allmälig, welche Vorurtheile
die Nationalerinnerung an dieses Wort knüpft, „r^es ^uti-ielii<-,i8
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gleich darauf tischt man Euch eine ganze Reihe von Anekdoten, wahre
und erfundene, auf, in welchen immer die Barbarei oder die Roh¬
heit irgend eines preußischen Soldaten mit pechschwarzen Farben
geschildert wird. Daß die Wunde, die Frankreich zu jener Zeit ge¬
schlagen wurde, noch heute in allen diesen Geschichten ihren Eiter
spritzt, ist freilich offenbar: daß aber leider auch viel Wahrheit jenen
Erzählungen zu Grunde liegt, kann man trotz alles deutschen Patrio¬
tismus nicht abläugnen. Die Preußen hatten an Frankreich Viel zu
rächen; aber die Oesterreicher nicht minder. Warum zeigte sich der
österreichische Soldat versöhnlicher und milder? Consequent beleuchtet
trägt dieses zur Charakteristik Wiens und Berlins Manches bei.

In so großem Vortheile nun das Wiener Volksleben dem Bar>
tirer gegenüber steht, in so großem Nachtheile steht das Leben der
höheren Gesellschaft Wiens im Vergleiche zu dem Berlins. Die Haupt¬
stadt Preußens, der Mittelpunkt deutscher Wissenschaft, der Versamm-
lungsplatz so vieler glänzenden Namen in Literatur und Kunst, die
Führerin des Zollvereins, verhältnißmäßig mit einer weit größeren
Oeffentlichkeit und Redefreiheit begabt, hat alle Elemente in sich, um
durch die verschiedenartigsten Fragen und Urtheile ihre Gesellschaft
zu beleben. Der wache Sinn, das schärfere Urtheil, der höhere Ehr¬
geiz, die gründlichere Bildung machen die Berliner Salons zu den
interessantesten in Deutschland. Wie abgestanden, ledern, langweilig
sind die Wiener dagegen, trotz ihres größeren Reichthums in Costü-
men und Tapeten. Nimmt man einige diplomatische Salons aus,
wie klein ist der Spielraum, auf welchem sich die Conversation der
sogenannten Gesellschaft in Wien bewegt. Du hast Empfehlungs¬
schreiben all verschiedenartig gestellte Personell, an einen Gelehrten,


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[0467] Argument geltend machen, das mir etwas schwer vom Herzen geht, das aber doch seine Würdigung verlangt. In den letzten Kriegen mit Frankreich haben sich die preußischen Truppen während ihrer dortigen Anwesenheit einen so schlimmen Ruf erworben, daß les Lo8!diz>le8 et les I'i'ussien« auf eine Stufe gestellt wurden. Noch heute ist das Wort un ?rü8Sion in ganz Frankreich mit sehr unan¬ genehmen Nebenbegriffen verbunden. Alle Deutschen, welche sich län¬ gere Zeit in Paris aufhalten, erfahren allmälig, welche Vorurtheile die Nationalerinnerung an dieses Wort knüpft, „r^es ^uti-ielii<-,i8 t;t.lie>in cle8 Kons em-in8°, nuÜ8 ces «ji,it)le8 <Ich?rü8hier8" — und gleich darauf tischt man Euch eine ganze Reihe von Anekdoten, wahre und erfundene, auf, in welchen immer die Barbarei oder die Roh¬ heit irgend eines preußischen Soldaten mit pechschwarzen Farben geschildert wird. Daß die Wunde, die Frankreich zu jener Zeit ge¬ schlagen wurde, noch heute in allen diesen Geschichten ihren Eiter spritzt, ist freilich offenbar: daß aber leider auch viel Wahrheit jenen Erzählungen zu Grunde liegt, kann man trotz alles deutschen Patrio¬ tismus nicht abläugnen. Die Preußen hatten an Frankreich Viel zu rächen; aber die Oesterreicher nicht minder. Warum zeigte sich der österreichische Soldat versöhnlicher und milder? Consequent beleuchtet trägt dieses zur Charakteristik Wiens und Berlins Manches bei. In so großem Vortheile nun das Wiener Volksleben dem Bar> tirer gegenüber steht, in so großem Nachtheile steht das Leben der höheren Gesellschaft Wiens im Vergleiche zu dem Berlins. Die Haupt¬ stadt Preußens, der Mittelpunkt deutscher Wissenschaft, der Versamm- lungsplatz so vieler glänzenden Namen in Literatur und Kunst, die Führerin des Zollvereins, verhältnißmäßig mit einer weit größeren Oeffentlichkeit und Redefreiheit begabt, hat alle Elemente in sich, um durch die verschiedenartigsten Fragen und Urtheile ihre Gesellschaft zu beleben. Der wache Sinn, das schärfere Urtheil, der höhere Ehr¬ geiz, die gründlichere Bildung machen die Berliner Salons zu den interessantesten in Deutschland. Wie abgestanden, ledern, langweilig sind die Wiener dagegen, trotz ihres größeren Reichthums in Costü- men und Tapeten. Nimmt man einige diplomatische Salons aus, wie klein ist der Spielraum, auf welchem sich die Conversation der sogenannten Gesellschaft in Wien bewegt. Du hast Empfehlungs¬ schreiben all verschiedenartig gestellte Personell, an einen Gelehrten, 60 »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/467>, abgerufen am 28.09.2024.