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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Mal horte ich die Fremden ihre Verwunderung über die ungestörte
Art ausdrücken, mit welcher wir solche Orte besuchen. Nicht etwa,
daß man den wohlgekleideter, den höheren Ständen angehörenden
Mann mit mehr Höflichkeit oder wohl gar mit Kriecherei empfinge:
im Gegentheil" man beachtet ihn nicht. Der Wiener ist in dieser
Beziehung bis tief in die unterste Classe Großstädter. Costüme und
Manieren werden nicht krähwiicklerisch von ihm begafft. Alls allen
öffentlichen Plätzen herrscht eine vollständige Gleichheit der Stände,
nicht als Resultat einer politischen Bildung wie in Paris, sondern
als Folge eurer gewissen Herzensbildung, einer heitern und versöhn¬
lichen Gemüthsstimmung. Der Berliner mit seinem schärferen ätzen¬
den Verstände faßt das Drückende des Proletariats heftiger auf. Er
rächt sich höhnisch an Euch, wenn Ihr in seine Kreise kommt, dafür,
daß Ihr ihn aus den Eurigen ausschließt. Der Wiener Volksmann
ist beschränkter in seiner Auffassung, aber biederer in seinem Wesen;
er macht die Ansprüche nicht wie sein norddeutscher Bruder, weil er
weniger eitel ist und weil Euer schönerer Rock und Euere besseren
Stiefel überhaupt nicht so sehr der Gegenstand seines Neides, seiner
Wünsche sind. Zudem gesellt sich noch der Umstand, daß der ge¬
meine Mann in Wien weit öfter in Gesellschaft der vornehmeren
Classen lebt als der Berliner. Die reizende Lage der österreichischen
Hauptstadt, die Naturschönheit der Umgebungen, die bedeutend mildere
Luft versetzen einen großen Theil der gesellschaftlichell Freuden ins
Freie. In keiner Stadt Deutschlands gibt es so viele öffentliche
Garten und Unterhaltungen im Grünen wie in Wien. Auf dem
Wasserglacis, im Prater, in Döbling, Hietzing, Meldung, wo beim
ersten und letzten Strahl der Sonne die Wiener Heiterkeit sich con-
centrirt, gibt es keine Kastenunterschiede. Hier sitzt der Handwerker
neben dem Staatsrath, der Hausmeister neben dem Aristokraten in
gleicher Ungebundenheit. Was Gesetz und Vorurtheil bei verschlosse¬
nen Thüren trennt, das findet sich in der offenen Natur fröhlich zu¬
sammen. In Berlin, wo die Natur so kärglich sich gezeigt hat, wo
die Luft schärfer, die Sommerfreuden spärlicher sind, concentrirt sich
die öffentliche Erholung in Kneipen, Kaffeehäusern und Casinos. Der
gemeine Mann ist. dadurch mehr und länger von den gebildeten
Ständen getrennt und ist daher auch roher und erbitterter.

Ich muß hier zu Gunsten des österreichischen Volkscharakters ein


Mal horte ich die Fremden ihre Verwunderung über die ungestörte
Art ausdrücken, mit welcher wir solche Orte besuchen. Nicht etwa,
daß man den wohlgekleideter, den höheren Ständen angehörenden
Mann mit mehr Höflichkeit oder wohl gar mit Kriecherei empfinge:
im Gegentheil« man beachtet ihn nicht. Der Wiener ist in dieser
Beziehung bis tief in die unterste Classe Großstädter. Costüme und
Manieren werden nicht krähwiicklerisch von ihm begafft. Alls allen
öffentlichen Plätzen herrscht eine vollständige Gleichheit der Stände,
nicht als Resultat einer politischen Bildung wie in Paris, sondern
als Folge eurer gewissen Herzensbildung, einer heitern und versöhn¬
lichen Gemüthsstimmung. Der Berliner mit seinem schärferen ätzen¬
den Verstände faßt das Drückende des Proletariats heftiger auf. Er
rächt sich höhnisch an Euch, wenn Ihr in seine Kreise kommt, dafür,
daß Ihr ihn aus den Eurigen ausschließt. Der Wiener Volksmann
ist beschränkter in seiner Auffassung, aber biederer in seinem Wesen;
er macht die Ansprüche nicht wie sein norddeutscher Bruder, weil er
weniger eitel ist und weil Euer schönerer Rock und Euere besseren
Stiefel überhaupt nicht so sehr der Gegenstand seines Neides, seiner
Wünsche sind. Zudem gesellt sich noch der Umstand, daß der ge¬
meine Mann in Wien weit öfter in Gesellschaft der vornehmeren
Classen lebt als der Berliner. Die reizende Lage der österreichischen
Hauptstadt, die Naturschönheit der Umgebungen, die bedeutend mildere
Luft versetzen einen großen Theil der gesellschaftlichell Freuden ins
Freie. In keiner Stadt Deutschlands gibt es so viele öffentliche
Garten und Unterhaltungen im Grünen wie in Wien. Auf dem
Wasserglacis, im Prater, in Döbling, Hietzing, Meldung, wo beim
ersten und letzten Strahl der Sonne die Wiener Heiterkeit sich con-
centrirt, gibt es keine Kastenunterschiede. Hier sitzt der Handwerker
neben dem Staatsrath, der Hausmeister neben dem Aristokraten in
gleicher Ungebundenheit. Was Gesetz und Vorurtheil bei verschlosse¬
nen Thüren trennt, das findet sich in der offenen Natur fröhlich zu¬
sammen. In Berlin, wo die Natur so kärglich sich gezeigt hat, wo
die Luft schärfer, die Sommerfreuden spärlicher sind, concentrirt sich
die öffentliche Erholung in Kneipen, Kaffeehäusern und Casinos. Der
gemeine Mann ist. dadurch mehr und länger von den gebildeten
Ständen getrennt und ist daher auch roher und erbitterter.

Ich muß hier zu Gunsten des österreichischen Volkscharakters ein


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[0466] Mal horte ich die Fremden ihre Verwunderung über die ungestörte Art ausdrücken, mit welcher wir solche Orte besuchen. Nicht etwa, daß man den wohlgekleideter, den höheren Ständen angehörenden Mann mit mehr Höflichkeit oder wohl gar mit Kriecherei empfinge: im Gegentheil« man beachtet ihn nicht. Der Wiener ist in dieser Beziehung bis tief in die unterste Classe Großstädter. Costüme und Manieren werden nicht krähwiicklerisch von ihm begafft. Alls allen öffentlichen Plätzen herrscht eine vollständige Gleichheit der Stände, nicht als Resultat einer politischen Bildung wie in Paris, sondern als Folge eurer gewissen Herzensbildung, einer heitern und versöhn¬ lichen Gemüthsstimmung. Der Berliner mit seinem schärferen ätzen¬ den Verstände faßt das Drückende des Proletariats heftiger auf. Er rächt sich höhnisch an Euch, wenn Ihr in seine Kreise kommt, dafür, daß Ihr ihn aus den Eurigen ausschließt. Der Wiener Volksmann ist beschränkter in seiner Auffassung, aber biederer in seinem Wesen; er macht die Ansprüche nicht wie sein norddeutscher Bruder, weil er weniger eitel ist und weil Euer schönerer Rock und Euere besseren Stiefel überhaupt nicht so sehr der Gegenstand seines Neides, seiner Wünsche sind. Zudem gesellt sich noch der Umstand, daß der ge¬ meine Mann in Wien weit öfter in Gesellschaft der vornehmeren Classen lebt als der Berliner. Die reizende Lage der österreichischen Hauptstadt, die Naturschönheit der Umgebungen, die bedeutend mildere Luft versetzen einen großen Theil der gesellschaftlichell Freuden ins Freie. In keiner Stadt Deutschlands gibt es so viele öffentliche Garten und Unterhaltungen im Grünen wie in Wien. Auf dem Wasserglacis, im Prater, in Döbling, Hietzing, Meldung, wo beim ersten und letzten Strahl der Sonne die Wiener Heiterkeit sich con- centrirt, gibt es keine Kastenunterschiede. Hier sitzt der Handwerker neben dem Staatsrath, der Hausmeister neben dem Aristokraten in gleicher Ungebundenheit. Was Gesetz und Vorurtheil bei verschlosse¬ nen Thüren trennt, das findet sich in der offenen Natur fröhlich zu¬ sammen. In Berlin, wo die Natur so kärglich sich gezeigt hat, wo die Luft schärfer, die Sommerfreuden spärlicher sind, concentrirt sich die öffentliche Erholung in Kneipen, Kaffeehäusern und Casinos. Der gemeine Mann ist. dadurch mehr und länger von den gebildeten Ständen getrennt und ist daher auch roher und erbitterter. Ich muß hier zu Gunsten des österreichischen Volkscharakters ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/466>, abgerufen am 29.06.2024.