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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Eine Gemäldesammlung in Wien.*)
Von Betty Paoli-



"Der Mensch ist ein Narr, und ich Sir ein Mensch", sagt Rahel
in einer Anwandlung ihrer Mercutiolaune. Leider fand ich nur zu
oft Gelegenheit, diesen Satz an mir zu bewahrheiten, doch will ich
hier nicht von meinen speciellen Verrücktheiten sprechen, sondern von
einer, die ich mit dem größten Theil meiner Mitgeschöpfe gemein
habe. Sie besteht darin: nach den Freuden und Genüssen, die uns
zugänglich wären, nicht froh begehrend, heiter dankend die Hand aus¬
zustrecken. Wenn wir klug genug wären, aufzunehmen, was sich uns
darbietet, wir fänden kaum noch Zeit, über Mangel zu klagen. Aber
nein! stumpfsinnig und verdumpft bleiben wir im Winkel fitzen, Alles
scheuend, was das Einerlei unserer Tage unterbräche, und spinnen
uns immer tiefer in diese unselige Indolenz ein, in der wir aber statt
zum Schmetterling zur Raupe werden.

Ein Paar Beispiele zur Erläuterung werden nicht schaden:

Sommerlang bist Du in der heißen Stadt gesessen; von Bin<
men hast Du nur die armen, halbverschmachteten gesehen, die man
auf den Markt hereinbringt, von Bäumen sahst Du nur die staub¬
bedeckten, verkümmerten, die, wenn sie Beine hätten, gewiß vernünf¬
tiger wären als Du, und nicht an dieser Stelle blieben. Endlich
hast Du einen nothwendigen Besuch auf dem Lande zu machen, kurz



*) Die ausgezeichnete Gemäldegalerie des Grafen Kolowrat in Wien
hat unseres Wissens bisher noch keine schildernde Feder gefunden. Wir glau¬
ben daher die Freunde der Kunst auf nachstehenden Aufsatz besonders aufmerk¬
Die Red. sam machen zu müssen.
Grtnzbote" Is6i. I. 52
Eine Gemäldesammlung in Wien.*)
Von Betty Paoli-



„Der Mensch ist ein Narr, und ich Sir ein Mensch", sagt Rahel
in einer Anwandlung ihrer Mercutiolaune. Leider fand ich nur zu
oft Gelegenheit, diesen Satz an mir zu bewahrheiten, doch will ich
hier nicht von meinen speciellen Verrücktheiten sprechen, sondern von
einer, die ich mit dem größten Theil meiner Mitgeschöpfe gemein
habe. Sie besteht darin: nach den Freuden und Genüssen, die uns
zugänglich wären, nicht froh begehrend, heiter dankend die Hand aus¬
zustrecken. Wenn wir klug genug wären, aufzunehmen, was sich uns
darbietet, wir fänden kaum noch Zeit, über Mangel zu klagen. Aber
nein! stumpfsinnig und verdumpft bleiben wir im Winkel fitzen, Alles
scheuend, was das Einerlei unserer Tage unterbräche, und spinnen
uns immer tiefer in diese unselige Indolenz ein, in der wir aber statt
zum Schmetterling zur Raupe werden.

Ein Paar Beispiele zur Erläuterung werden nicht schaden:

Sommerlang bist Du in der heißen Stadt gesessen; von Bin<
men hast Du nur die armen, halbverschmachteten gesehen, die man
auf den Markt hereinbringt, von Bäumen sahst Du nur die staub¬
bedeckten, verkümmerten, die, wenn sie Beine hätten, gewiß vernünf¬
tiger wären als Du, und nicht an dieser Stelle blieben. Endlich
hast Du einen nothwendigen Besuch auf dem Lande zu machen, kurz



*) Die ausgezeichnete Gemäldegalerie des Grafen Kolowrat in Wien
hat unseres Wissens bisher noch keine schildernde Feder gefunden. Wir glau¬
ben daher die Freunde der Kunst auf nachstehenden Aufsatz besonders aufmerk¬
Die Red. sam machen zu müssen.
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[0401] Eine Gemäldesammlung in Wien.*) Von Betty Paoli- „Der Mensch ist ein Narr, und ich Sir ein Mensch", sagt Rahel in einer Anwandlung ihrer Mercutiolaune. Leider fand ich nur zu oft Gelegenheit, diesen Satz an mir zu bewahrheiten, doch will ich hier nicht von meinen speciellen Verrücktheiten sprechen, sondern von einer, die ich mit dem größten Theil meiner Mitgeschöpfe gemein habe. Sie besteht darin: nach den Freuden und Genüssen, die uns zugänglich wären, nicht froh begehrend, heiter dankend die Hand aus¬ zustrecken. Wenn wir klug genug wären, aufzunehmen, was sich uns darbietet, wir fänden kaum noch Zeit, über Mangel zu klagen. Aber nein! stumpfsinnig und verdumpft bleiben wir im Winkel fitzen, Alles scheuend, was das Einerlei unserer Tage unterbräche, und spinnen uns immer tiefer in diese unselige Indolenz ein, in der wir aber statt zum Schmetterling zur Raupe werden. Ein Paar Beispiele zur Erläuterung werden nicht schaden: Sommerlang bist Du in der heißen Stadt gesessen; von Bin< men hast Du nur die armen, halbverschmachteten gesehen, die man auf den Markt hereinbringt, von Bäumen sahst Du nur die staub¬ bedeckten, verkümmerten, die, wenn sie Beine hätten, gewiß vernünf¬ tiger wären als Du, und nicht an dieser Stelle blieben. Endlich hast Du einen nothwendigen Besuch auf dem Lande zu machen, kurz *) Die ausgezeichnete Gemäldegalerie des Grafen Kolowrat in Wien hat unseres Wissens bisher noch keine schildernde Feder gefunden. Wir glau¬ ben daher die Freunde der Kunst auf nachstehenden Aufsatz besonders aufmerk¬ Die Red. sam machen zu müssen. Grtnzbote» Is6i. I. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/401>, abgerufen am 26.06.2024.