Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.II. Notizen. Literatur über Rußland. -- Russische Ccnsurstriche. -- Der russische Staats¬ kalender. -- Ungesetzlicher Prozeß gegen Murhard. -- Winter's diplomatische Caschcnspielereien. -- Tylney Hall- -- Das junge Italien. -- Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit II. Notizen. Literatur über Rußland. — Russische Ccnsurstriche. — Der russische Staats¬ kalender. — Ungesetzlicher Prozeß gegen Murhard. — Winter's diplomatische Caschcnspielereien. — Tylney Hall- — Das junge Italien. — Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0325" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180038"/> </div> <div n="2"> <head> II.<lb/> Notizen.</head><lb/> <note type="argument"> Literatur über Rußland. — Russische Ccnsurstriche. — Der russische Staats¬<lb/> kalender. — Ungesetzlicher Prozeß gegen Murhard. — Winter's diplomatische<lb/> Caschcnspielereien. — Tylney Hall- — Das junge Italien.</note><lb/> <p xml:id="ID_819" next="#ID_820"> — Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit<lb/> Gratsch sind» noch Tolstoi und ein gewisser Grimm für Rußland auf¬<lb/> getreten. Tolstoi, ein französisch belletristisch drcssirtcr Cavalier, ver¬<lb/> beißt sich in die Aeußerlichkeiten des Custine'sehen Buchs, sucht den<lb/> Marquis persönlich lächerlich zu machen und die gewichtigsten Fragen<lb/> als Bagatelle wegzuschcrzcn. Dies gezwungene Lächeln, diese endlosen<lb/> Witzeleien und die entsetzliche Frivolität, die dem Allen zu Grunde<lb/> liegt, verrathen eine faule Sache. Grimm vertheidigt sein geliebtes<lb/> Reich auf eine Art, daß man sich in Petersburg wohl nicht sehr<lb/> freuen wird. Der Mann ist seit dreißig Jahren russischer Militärarzt<lb/> und kämpft für sein Fortkommen in Nußland. Diese traurigen Pa¬<lb/> ladine lassen sich auf einen Kampf «in, dem sie nicht gewachsen sind;<lb/> die politischen Begriffe und die Gesinnungen, die sie dabei bekennen,<lb/> sind so hvpcrboräisch, daß sie selbst unwillkürlich gegen Rußland schrei¬<lb/> ben. Aber es scheint, daß jeder „Rubel auf Reisen" es für eine<lb/> Pflicht der Selbsterhaltung ansieht, laut als aävooat»« rlisboli aufzu¬<lb/> treten, wenn er auch von der Sache Nichts versteht; denn er stellt sich<lb/> damit jedenfalls ein Zeugniß seiner loyalen Furcht aus und sichert sich<lb/> gegen mögliche Verdächtigungen durch die zahllosen russischen „Beob¬<lb/> achter" beiderlei Geschlechts, die Europa durchschwärmen. Lächerlich<lb/> sind die Uebertreibungen der Leute. Wollte man Gratsch und den<lb/> Andern nur den dritten Theil des Glaubens schenken, den sie verlan¬<lb/> gen, so wäre Rußland nicht nur kein barbarischer, sondern ein hypcrscnti-<lb/> mentalcr Staat, wo Diebe und Mörder besser behandelt werden, wie<lb/> anderswo die ehrlichen Leute; Sibirien aber ein Garten, wo die Ver¬<lb/> wichenen itäglich durch sanfte Waldhornklänge aufgeweckt und, wie der<lb/> Fürst Trubczkoi, blos zum „Blumcnbegicßcn" angehalten werden. Lei¬<lb/> der gibt es einige Kleinigkeiten, die sich nichr gut wegschcrzcn lassen,<lb/> z. B. die russische Geschichte. Auch der russische Katechismus und<lb/> mehrere Ukase sind in Europa ziemlich bekannt geworden. — Wclp's<lb/> Petersburger Skizzen führen, bei aller Schlichtheit der Darstellung,<lb/> im Wesentlichen zu denselben Resultaten, wie Custinc's Briefe. Freilich<lb/> ist es für einen Deutschen platterdings unmöglich, das tiefe russische<lb/> Wesen zu begreifen, ehe er selbst vollständig verrußt ist und, will man<lb/> unseren Nachbarn glauben, so hat noch nie ein frei gebliebener Aus¬<lb/> länder ein wahres Wort über Rußland gesprochen. Hoffentlich wird<lb/> aber doch aus den vielen Schriften für und wider etwas Wahrheit an<lb/> den Tag kommen und eine Helle, eine Art von Nordlicht über den</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0325]
II.
Notizen.
Literatur über Rußland. — Russische Ccnsurstriche. — Der russische Staats¬
kalender. — Ungesetzlicher Prozeß gegen Murhard. — Winter's diplomatische
Caschcnspielereien. — Tylney Hall- — Das junge Italien.
— Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit
Gratsch sind» noch Tolstoi und ein gewisser Grimm für Rußland auf¬
getreten. Tolstoi, ein französisch belletristisch drcssirtcr Cavalier, ver¬
beißt sich in die Aeußerlichkeiten des Custine'sehen Buchs, sucht den
Marquis persönlich lächerlich zu machen und die gewichtigsten Fragen
als Bagatelle wegzuschcrzcn. Dies gezwungene Lächeln, diese endlosen
Witzeleien und die entsetzliche Frivolität, die dem Allen zu Grunde
liegt, verrathen eine faule Sache. Grimm vertheidigt sein geliebtes
Reich auf eine Art, daß man sich in Petersburg wohl nicht sehr
freuen wird. Der Mann ist seit dreißig Jahren russischer Militärarzt
und kämpft für sein Fortkommen in Nußland. Diese traurigen Pa¬
ladine lassen sich auf einen Kampf «in, dem sie nicht gewachsen sind;
die politischen Begriffe und die Gesinnungen, die sie dabei bekennen,
sind so hvpcrboräisch, daß sie selbst unwillkürlich gegen Rußland schrei¬
ben. Aber es scheint, daß jeder „Rubel auf Reisen" es für eine
Pflicht der Selbsterhaltung ansieht, laut als aävooat»« rlisboli aufzu¬
treten, wenn er auch von der Sache Nichts versteht; denn er stellt sich
damit jedenfalls ein Zeugniß seiner loyalen Furcht aus und sichert sich
gegen mögliche Verdächtigungen durch die zahllosen russischen „Beob¬
achter" beiderlei Geschlechts, die Europa durchschwärmen. Lächerlich
sind die Uebertreibungen der Leute. Wollte man Gratsch und den
Andern nur den dritten Theil des Glaubens schenken, den sie verlan¬
gen, so wäre Rußland nicht nur kein barbarischer, sondern ein hypcrscnti-
mentalcr Staat, wo Diebe und Mörder besser behandelt werden, wie
anderswo die ehrlichen Leute; Sibirien aber ein Garten, wo die Ver¬
wichenen itäglich durch sanfte Waldhornklänge aufgeweckt und, wie der
Fürst Trubczkoi, blos zum „Blumcnbegicßcn" angehalten werden. Lei¬
der gibt es einige Kleinigkeiten, die sich nichr gut wegschcrzcn lassen,
z. B. die russische Geschichte. Auch der russische Katechismus und
mehrere Ukase sind in Europa ziemlich bekannt geworden. — Wclp's
Petersburger Skizzen führen, bei aller Schlichtheit der Darstellung,
im Wesentlichen zu denselben Resultaten, wie Custinc's Briefe. Freilich
ist es für einen Deutschen platterdings unmöglich, das tiefe russische
Wesen zu begreifen, ehe er selbst vollständig verrußt ist und, will man
unseren Nachbarn glauben, so hat noch nie ein frei gebliebener Aus¬
länder ein wahres Wort über Rußland gesprochen. Hoffentlich wird
aber doch aus den vielen Schriften für und wider etwas Wahrheit an
den Tag kommen und eine Helle, eine Art von Nordlicht über den
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |