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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Ziel, der ganze Umfang seines Leidens. Die Griechen hatten, um
dramatisch bewegt werden zu können, kaum ein die Illusion äußerlich
herbeiführendes Theater nöthig, und dies ist es, was die Ursache
ihrer Größe in der dramatischen Kunst ausmacht. In Rom hinge^
gen brauchte das Volk, um angeregt zu werden, plumpe und mate¬
rielle Schauspiele, die harmonischen Klagen von Philoktet und Oedi-
pus erschütterten nicht mehr die römischen Herzen, die Illusion war
ihnen nicht genug, sie brauchten den Schrei der sterbenden Gladia¬
toren. Rom verachtete die kleinlichen Schrecken der griechischen Tra¬
gödie, es wollte Männer sehen, die sich schlagen, verwunden und
tödten, eine von Blut überströmte Arena, deren Sand von den Con-
vulsionen der Sterbenden aufgewühlt wird, wirkliche Agonien, wirk¬
lichen Tod und wirkliche Leichen. So verstanden die Römer die
dramatische Wirkung, drum hatten sie auch keine Theater, sondern
nur einen Circus und jede Anregung des Geistes ging unter in der
ausschließlichen Befriedigung der Sinne.

Es sei uns erlaubt, den französischen Autor hier zu unterbre¬
chen. Auch das deutsche Theater nähert sich immer mehr dem Cir¬
cus und die Anrechte des Geistes müssen verstummen vor der sinn¬
lichen Befriedigung. Zwar weiden wir uns nicht an den Zuk-
kungen verbindender Athleten, aber der große Raum, den wir auf
der Bühne den musikalischen Productionen einräumen, macht die
Sache um Nichts besser. Träg und gedankenlos lassen wir die Me¬
lodie an unserem Ohre vorüberschleichen, und gewöhnt daran, verlie¬
ren wir allmälig im Theater die Aufmerksamkeit des Geistes und
die psychische Empfänglichkeit für das Wort des Dichters. Die große
Vorliebe für die Oper ist kein Zeichen von Kunstsinn, sondern nur
daS Lechzen der Sinne nach raffinirtem Genusse. Der Musik, die,
selbst wenn sie die gute ist und nicht die gegenwärtig am meisten
frequentirte, nur aus der Empfindung hervorgeht und blos auf die¬
selbe wirkt, gebührt nicht mehr der theatralische Vorrang, in unserer
Zeit, wo die Empfindung überall, in der Lyrik wie in der Philoso,
phie, sich zum Gedanken verklären muß und der Geist allein sein
siegreiches Banner schwingt. Man sollte wenigstens ernstlich darauf
antragen, daß, wie vielleicht jetzt nur in Berlin und Wien, auch in den
übrigen deutschen Städten das recitirende Schauspiel nicht mit der
Oper dasselbe Haus ;u theilen habe; daß daS erstere zur täglichen


Ziel, der ganze Umfang seines Leidens. Die Griechen hatten, um
dramatisch bewegt werden zu können, kaum ein die Illusion äußerlich
herbeiführendes Theater nöthig, und dies ist es, was die Ursache
ihrer Größe in der dramatischen Kunst ausmacht. In Rom hinge^
gen brauchte das Volk, um angeregt zu werden, plumpe und mate¬
rielle Schauspiele, die harmonischen Klagen von Philoktet und Oedi-
pus erschütterten nicht mehr die römischen Herzen, die Illusion war
ihnen nicht genug, sie brauchten den Schrei der sterbenden Gladia¬
toren. Rom verachtete die kleinlichen Schrecken der griechischen Tra¬
gödie, es wollte Männer sehen, die sich schlagen, verwunden und
tödten, eine von Blut überströmte Arena, deren Sand von den Con-
vulsionen der Sterbenden aufgewühlt wird, wirkliche Agonien, wirk¬
lichen Tod und wirkliche Leichen. So verstanden die Römer die
dramatische Wirkung, drum hatten sie auch keine Theater, sondern
nur einen Circus und jede Anregung des Geistes ging unter in der
ausschließlichen Befriedigung der Sinne.

Es sei uns erlaubt, den französischen Autor hier zu unterbre¬
chen. Auch das deutsche Theater nähert sich immer mehr dem Cir¬
cus und die Anrechte des Geistes müssen verstummen vor der sinn¬
lichen Befriedigung. Zwar weiden wir uns nicht an den Zuk-
kungen verbindender Athleten, aber der große Raum, den wir auf
der Bühne den musikalischen Productionen einräumen, macht die
Sache um Nichts besser. Träg und gedankenlos lassen wir die Me¬
lodie an unserem Ohre vorüberschleichen, und gewöhnt daran, verlie¬
ren wir allmälig im Theater die Aufmerksamkeit des Geistes und
die psychische Empfänglichkeit für das Wort des Dichters. Die große
Vorliebe für die Oper ist kein Zeichen von Kunstsinn, sondern nur
daS Lechzen der Sinne nach raffinirtem Genusse. Der Musik, die,
selbst wenn sie die gute ist und nicht die gegenwärtig am meisten
frequentirte, nur aus der Empfindung hervorgeht und blos auf die¬
selbe wirkt, gebührt nicht mehr der theatralische Vorrang, in unserer
Zeit, wo die Empfindung überall, in der Lyrik wie in der Philoso,
phie, sich zum Gedanken verklären muß und der Geist allein sein
siegreiches Banner schwingt. Man sollte wenigstens ernstlich darauf
antragen, daß, wie vielleicht jetzt nur in Berlin und Wien, auch in den
übrigen deutschen Städten das recitirende Schauspiel nicht mit der
Oper dasselbe Haus ;u theilen habe; daß daS erstere zur täglichen


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[0300] Ziel, der ganze Umfang seines Leidens. Die Griechen hatten, um dramatisch bewegt werden zu können, kaum ein die Illusion äußerlich herbeiführendes Theater nöthig, und dies ist es, was die Ursache ihrer Größe in der dramatischen Kunst ausmacht. In Rom hinge^ gen brauchte das Volk, um angeregt zu werden, plumpe und mate¬ rielle Schauspiele, die harmonischen Klagen von Philoktet und Oedi- pus erschütterten nicht mehr die römischen Herzen, die Illusion war ihnen nicht genug, sie brauchten den Schrei der sterbenden Gladia¬ toren. Rom verachtete die kleinlichen Schrecken der griechischen Tra¬ gödie, es wollte Männer sehen, die sich schlagen, verwunden und tödten, eine von Blut überströmte Arena, deren Sand von den Con- vulsionen der Sterbenden aufgewühlt wird, wirkliche Agonien, wirk¬ lichen Tod und wirkliche Leichen. So verstanden die Römer die dramatische Wirkung, drum hatten sie auch keine Theater, sondern nur einen Circus und jede Anregung des Geistes ging unter in der ausschließlichen Befriedigung der Sinne. Es sei uns erlaubt, den französischen Autor hier zu unterbre¬ chen. Auch das deutsche Theater nähert sich immer mehr dem Cir¬ cus und die Anrechte des Geistes müssen verstummen vor der sinn¬ lichen Befriedigung. Zwar weiden wir uns nicht an den Zuk- kungen verbindender Athleten, aber der große Raum, den wir auf der Bühne den musikalischen Productionen einräumen, macht die Sache um Nichts besser. Träg und gedankenlos lassen wir die Me¬ lodie an unserem Ohre vorüberschleichen, und gewöhnt daran, verlie¬ ren wir allmälig im Theater die Aufmerksamkeit des Geistes und die psychische Empfänglichkeit für das Wort des Dichters. Die große Vorliebe für die Oper ist kein Zeichen von Kunstsinn, sondern nur daS Lechzen der Sinne nach raffinirtem Genusse. Der Musik, die, selbst wenn sie die gute ist und nicht die gegenwärtig am meisten frequentirte, nur aus der Empfindung hervorgeht und blos auf die¬ selbe wirkt, gebührt nicht mehr der theatralische Vorrang, in unserer Zeit, wo die Empfindung überall, in der Lyrik wie in der Philoso, phie, sich zum Gedanken verklären muß und der Geist allein sein siegreiches Banner schwingt. Man sollte wenigstens ernstlich darauf antragen, daß, wie vielleicht jetzt nur in Berlin und Wien, auch in den übrigen deutschen Städten das recitirende Schauspiel nicht mit der Oper dasselbe Haus ;u theilen habe; daß daS erstere zur täglichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/300>, abgerufen am 26.06.2024.