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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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und raffinirten Liebe. Mit welcher Vorsicht und Zlnückhaltting Nta-
eine dabei zu Werke ging, als er die ehebrecherische und fast blut¬
schänderische Liebe Phädra's vorführte, ist bekannt; kühner war Cam-
pistron im Tiridate, da er die Liebe, des Bruders zur Schwester auf
die Scene brachte, Duciö ahmte ihm, ohne ihn zu erreichen, im
Abufar nach und Chateaubriand machte aus dieser Liebe die Schuld
und die Strafe seines Rene. In der That besitzt Ren.! jenen un¬
ruhigen und träumerischen Charakter, den Lord Byron nach dein
Beispiele Chateaubriand'S seinen Helden zu geben wusste, und der
seitdem zu einer Schule in der Literatur wurde, nur deshalb^ weil er
in seine Seele eine seltsame und schuldvolle Leidenschaft gleiten ließ.
Die Nachahmer in Auffindung uimatürlicher und raffinirter Passio¬
nen fehlten bis auf unsexe Zeit nicht, nur tritt dabei der Unterschied
hervor, daß in der älteren Literatur Phädra, Tiridate, Abusar, Reiw
über ihre Verirrungen errötheten und in dieser Neue darüber sich
die Regel wieder geltend machte, während gegenwärtig die Leiden¬
schaft kein Crröthen, sondern nur den Aufruhr gegen die Pflicht
kennt, und die Regel vom Throne stoßend, die Ausnahme an ihre
Stelle setzen möchte. Bei diesem Verfahren aber erscheinen zwei
große Fehler als unvermeidlich: die Monotonie und die Uebertrei¬
bung. Jene, weil jede Bizarrerie sich immer in demselben Kreise
bewegt und außerdem leicht nachahmbar ist, -- welche Leichtig¬
keit der Nachahmung in der Poesie wie in der Malerei die Strafe
dessen ist, was man Manier nennt, diese, weil der dramatische
Autor bei der Darstellung von Seltsamkeiten und Ausnahmen sich
nicht wie bei der Schilderung allgemeiner Leidenschaften an ein be¬
stimmtes Maß und an seine Kenntniß menschlicher Zustände halten
kann, sondern, gezwungen, in seiner Einbildungskraft zu finden, was
ein Mensch dieser Art thut und soll, sich immer mehr von den allge¬
meinen Empfindungen, das ist von dem einzig Wahren entfernt. In,
Glauben, niemals gewaltig genug wirken zu können, überschreitet
er das Ziel, aus Furcht, es nicht zu erreichen. Dabei sehen wir
mehr eine Wirkung auf die Sinne, als auf den Geist, beabsichtigt
und erreicht, und hören in den Leiden der modernen Tragödie mehr
den Schrei des gemarterten Körpers als die Klage der gequälten, aber
endlich siegreichen, weil unsterblichen Seele; diese ist mannigfaltig un^d
wechselnd, der Körper weiß Nichts als zu sterben, dies ist daS ganze


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und raffinirten Liebe. Mit welcher Vorsicht und Zlnückhaltting Nta-
eine dabei zu Werke ging, als er die ehebrecherische und fast blut¬
schänderische Liebe Phädra's vorführte, ist bekannt; kühner war Cam-
pistron im Tiridate, da er die Liebe, des Bruders zur Schwester auf
die Scene brachte, Duciö ahmte ihm, ohne ihn zu erreichen, im
Abufar nach und Chateaubriand machte aus dieser Liebe die Schuld
und die Strafe seines Rene. In der That besitzt Ren.! jenen un¬
ruhigen und träumerischen Charakter, den Lord Byron nach dein
Beispiele Chateaubriand'S seinen Helden zu geben wusste, und der
seitdem zu einer Schule in der Literatur wurde, nur deshalb^ weil er
in seine Seele eine seltsame und schuldvolle Leidenschaft gleiten ließ.
Die Nachahmer in Auffindung uimatürlicher und raffinirter Passio¬
nen fehlten bis auf unsexe Zeit nicht, nur tritt dabei der Unterschied
hervor, daß in der älteren Literatur Phädra, Tiridate, Abusar, Reiw
über ihre Verirrungen errötheten und in dieser Neue darüber sich
die Regel wieder geltend machte, während gegenwärtig die Leiden¬
schaft kein Crröthen, sondern nur den Aufruhr gegen die Pflicht
kennt, und die Regel vom Throne stoßend, die Ausnahme an ihre
Stelle setzen möchte. Bei diesem Verfahren aber erscheinen zwei
große Fehler als unvermeidlich: die Monotonie und die Uebertrei¬
bung. Jene, weil jede Bizarrerie sich immer in demselben Kreise
bewegt und außerdem leicht nachahmbar ist, — welche Leichtig¬
keit der Nachahmung in der Poesie wie in der Malerei die Strafe
dessen ist, was man Manier nennt, diese, weil der dramatische
Autor bei der Darstellung von Seltsamkeiten und Ausnahmen sich
nicht wie bei der Schilderung allgemeiner Leidenschaften an ein be¬
stimmtes Maß und an seine Kenntniß menschlicher Zustände halten
kann, sondern, gezwungen, in seiner Einbildungskraft zu finden, was
ein Mensch dieser Art thut und soll, sich immer mehr von den allge¬
meinen Empfindungen, das ist von dem einzig Wahren entfernt. In,
Glauben, niemals gewaltig genug wirken zu können, überschreitet
er das Ziel, aus Furcht, es nicht zu erreichen. Dabei sehen wir
mehr eine Wirkung auf die Sinne, als auf den Geist, beabsichtigt
und erreicht, und hören in den Leiden der modernen Tragödie mehr
den Schrei des gemarterten Körpers als die Klage der gequälten, aber
endlich siegreichen, weil unsterblichen Seele; diese ist mannigfaltig un^d
wechselnd, der Körper weiß Nichts als zu sterben, dies ist daS ganze


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[0299] und raffinirten Liebe. Mit welcher Vorsicht und Zlnückhaltting Nta- eine dabei zu Werke ging, als er die ehebrecherische und fast blut¬ schänderische Liebe Phädra's vorführte, ist bekannt; kühner war Cam- pistron im Tiridate, da er die Liebe, des Bruders zur Schwester auf die Scene brachte, Duciö ahmte ihm, ohne ihn zu erreichen, im Abufar nach und Chateaubriand machte aus dieser Liebe die Schuld und die Strafe seines Rene. In der That besitzt Ren.! jenen un¬ ruhigen und träumerischen Charakter, den Lord Byron nach dein Beispiele Chateaubriand'S seinen Helden zu geben wusste, und der seitdem zu einer Schule in der Literatur wurde, nur deshalb^ weil er in seine Seele eine seltsame und schuldvolle Leidenschaft gleiten ließ. Die Nachahmer in Auffindung uimatürlicher und raffinirter Passio¬ nen fehlten bis auf unsexe Zeit nicht, nur tritt dabei der Unterschied hervor, daß in der älteren Literatur Phädra, Tiridate, Abusar, Reiw über ihre Verirrungen errötheten und in dieser Neue darüber sich die Regel wieder geltend machte, während gegenwärtig die Leiden¬ schaft kein Crröthen, sondern nur den Aufruhr gegen die Pflicht kennt, und die Regel vom Throne stoßend, die Ausnahme an ihre Stelle setzen möchte. Bei diesem Verfahren aber erscheinen zwei große Fehler als unvermeidlich: die Monotonie und die Uebertrei¬ bung. Jene, weil jede Bizarrerie sich immer in demselben Kreise bewegt und außerdem leicht nachahmbar ist, — welche Leichtig¬ keit der Nachahmung in der Poesie wie in der Malerei die Strafe dessen ist, was man Manier nennt, diese, weil der dramatische Autor bei der Darstellung von Seltsamkeiten und Ausnahmen sich nicht wie bei der Schilderung allgemeiner Leidenschaften an ein be¬ stimmtes Maß und an seine Kenntniß menschlicher Zustände halten kann, sondern, gezwungen, in seiner Einbildungskraft zu finden, was ein Mensch dieser Art thut und soll, sich immer mehr von den allge¬ meinen Empfindungen, das ist von dem einzig Wahren entfernt. In, Glauben, niemals gewaltig genug wirken zu können, überschreitet er das Ziel, aus Furcht, es nicht zu erreichen. Dabei sehen wir mehr eine Wirkung auf die Sinne, als auf den Geist, beabsichtigt und erreicht, und hören in den Leiden der modernen Tragödie mehr den Schrei des gemarterten Körpers als die Klage der gequälten, aber endlich siegreichen, weil unsterblichen Seele; diese ist mannigfaltig un^d wechselnd, der Körper weiß Nichts als zu sterben, dies ist daS ganze 3S*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/299>, abgerufen am 26.06.2024.