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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Darstellung komme und der letzteren ein minder hervorragendes Locale
angewiesen werde. Das Schauspiel, dadurch zu doppelter Anstrengung
getrieben, muß endlich dahin kommen, das Publicum zum Besuche
zu zwingen, nicht nur, wenn eS, wie er der Oper, Nichts zu denken
und Viel zu hören und zu schauen gibt, sondern wenn es sich um
den Geist und die nationalen Bestrebungen der Literatur handelt.
Auch in Frankreich wird, wie Se. Marc Girardin gesteht, dem Geiste
wenige? gehuldigt, als der sinnlichen Aufregung, aber wenigstens ge¬
schieht dies nicht durch eine unverhältnißmäßige Bevorzugung der
Oper, und die Darstellungen, die sinnlich wirken wollen, müssen we¬
nigstens unter einer Form erftheinen, die für den Gedanken und die
Se le berechnet ist. Mag der Moralist gegen manche Scene im
Vaudeville zu eifern haben, mag der Aesthetiker mit dem Arzte in
Gemeinschaft untersuchen, ob die Convulsionen einer Victor Hugo'-
schen Heldin mehr Nervenzufälle als psychische Leiden darstellen, der
Zweck ist doch immer ein geistiger. Die Oper aber mit ihren Bei¬
gaben an prachtvoller Ausstattung und reizende," Tänzerinnen in
schönem Costüm und in partienweisem Mangel an Costüm, wird in
Deutschland das Theater immer mehr zu einem Phantasie-Harem
für blasirte Wüstlinge machen.

Wir kehren zum französischen Autor zurück. Nachdem er unter¬
sucht hat, wie im älteren sowohl, als im modernen Theater, die
vier oder fünf hauptsächlichsten Empfindungen, die der Vorwurf für
dramatische Kunst sind, ausgedrückt werden, gelangt er zum Resultat,
daß das moderne Theater die Wahrheit einbüßte, gewaltsam und
überttieben geworden ist. Der Schmerz hat sich in Melancholie, die
Zärtlichkeit in Empfindsamkeit, die beschauliche Betrachtung in brü¬
tende Träumerei verwandelt, überall hat, so zu sagen, der Schat¬
ten der Dinge ihre eigentliche körperliche Wesenheit ersetzt, der Schat¬
ten, der sie freilich in's Uebertriebenc vergrößert darstellt, aber doch
nur immer vag, unbestimmt und leer bleibt. Und er setzt die Frage
hinzu: ob die Alteration in der Darstellungsweise, im Ausdruck ein
Zeichen dafür sei, daß die menschlichen Empfindungen überhaupt hef¬
tiger, gesteigerter, alterirter geworden sind. Ob die Menschen von
heute das Leben feiger und weichlicher lieben, als die von ehemals,
weil Caterina im Tyrann von Padua weniger ergeben sich zum
Tode bereitet, als die Iphigenia des Euripides oder Racine? Ob


Darstellung komme und der letzteren ein minder hervorragendes Locale
angewiesen werde. Das Schauspiel, dadurch zu doppelter Anstrengung
getrieben, muß endlich dahin kommen, das Publicum zum Besuche
zu zwingen, nicht nur, wenn eS, wie er der Oper, Nichts zu denken
und Viel zu hören und zu schauen gibt, sondern wenn es sich um
den Geist und die nationalen Bestrebungen der Literatur handelt.
Auch in Frankreich wird, wie Se. Marc Girardin gesteht, dem Geiste
wenige? gehuldigt, als der sinnlichen Aufregung, aber wenigstens ge¬
schieht dies nicht durch eine unverhältnißmäßige Bevorzugung der
Oper, und die Darstellungen, die sinnlich wirken wollen, müssen we¬
nigstens unter einer Form erftheinen, die für den Gedanken und die
Se le berechnet ist. Mag der Moralist gegen manche Scene im
Vaudeville zu eifern haben, mag der Aesthetiker mit dem Arzte in
Gemeinschaft untersuchen, ob die Convulsionen einer Victor Hugo'-
schen Heldin mehr Nervenzufälle als psychische Leiden darstellen, der
Zweck ist doch immer ein geistiger. Die Oper aber mit ihren Bei¬
gaben an prachtvoller Ausstattung und reizende,» Tänzerinnen in
schönem Costüm und in partienweisem Mangel an Costüm, wird in
Deutschland das Theater immer mehr zu einem Phantasie-Harem
für blasirte Wüstlinge machen.

Wir kehren zum französischen Autor zurück. Nachdem er unter¬
sucht hat, wie im älteren sowohl, als im modernen Theater, die
vier oder fünf hauptsächlichsten Empfindungen, die der Vorwurf für
dramatische Kunst sind, ausgedrückt werden, gelangt er zum Resultat,
daß das moderne Theater die Wahrheit einbüßte, gewaltsam und
überttieben geworden ist. Der Schmerz hat sich in Melancholie, die
Zärtlichkeit in Empfindsamkeit, die beschauliche Betrachtung in brü¬
tende Träumerei verwandelt, überall hat, so zu sagen, der Schat¬
ten der Dinge ihre eigentliche körperliche Wesenheit ersetzt, der Schat¬
ten, der sie freilich in's Uebertriebenc vergrößert darstellt, aber doch
nur immer vag, unbestimmt und leer bleibt. Und er setzt die Frage
hinzu: ob die Alteration in der Darstellungsweise, im Ausdruck ein
Zeichen dafür sei, daß die menschlichen Empfindungen überhaupt hef¬
tiger, gesteigerter, alterirter geworden sind. Ob die Menschen von
heute das Leben feiger und weichlicher lieben, als die von ehemals,
weil Caterina im Tyrann von Padua weniger ergeben sich zum
Tode bereitet, als die Iphigenia des Euripides oder Racine? Ob


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[0301] Darstellung komme und der letzteren ein minder hervorragendes Locale angewiesen werde. Das Schauspiel, dadurch zu doppelter Anstrengung getrieben, muß endlich dahin kommen, das Publicum zum Besuche zu zwingen, nicht nur, wenn eS, wie er der Oper, Nichts zu denken und Viel zu hören und zu schauen gibt, sondern wenn es sich um den Geist und die nationalen Bestrebungen der Literatur handelt. Auch in Frankreich wird, wie Se. Marc Girardin gesteht, dem Geiste wenige? gehuldigt, als der sinnlichen Aufregung, aber wenigstens ge¬ schieht dies nicht durch eine unverhältnißmäßige Bevorzugung der Oper, und die Darstellungen, die sinnlich wirken wollen, müssen we¬ nigstens unter einer Form erftheinen, die für den Gedanken und die Se le berechnet ist. Mag der Moralist gegen manche Scene im Vaudeville zu eifern haben, mag der Aesthetiker mit dem Arzte in Gemeinschaft untersuchen, ob die Convulsionen einer Victor Hugo'- schen Heldin mehr Nervenzufälle als psychische Leiden darstellen, der Zweck ist doch immer ein geistiger. Die Oper aber mit ihren Bei¬ gaben an prachtvoller Ausstattung und reizende,» Tänzerinnen in schönem Costüm und in partienweisem Mangel an Costüm, wird in Deutschland das Theater immer mehr zu einem Phantasie-Harem für blasirte Wüstlinge machen. Wir kehren zum französischen Autor zurück. Nachdem er unter¬ sucht hat, wie im älteren sowohl, als im modernen Theater, die vier oder fünf hauptsächlichsten Empfindungen, die der Vorwurf für dramatische Kunst sind, ausgedrückt werden, gelangt er zum Resultat, daß das moderne Theater die Wahrheit einbüßte, gewaltsam und überttieben geworden ist. Der Schmerz hat sich in Melancholie, die Zärtlichkeit in Empfindsamkeit, die beschauliche Betrachtung in brü¬ tende Träumerei verwandelt, überall hat, so zu sagen, der Schat¬ ten der Dinge ihre eigentliche körperliche Wesenheit ersetzt, der Schat¬ ten, der sie freilich in's Uebertriebenc vergrößert darstellt, aber doch nur immer vag, unbestimmt und leer bleibt. Und er setzt die Frage hinzu: ob die Alteration in der Darstellungsweise, im Ausdruck ein Zeichen dafür sei, daß die menschlichen Empfindungen überhaupt hef¬ tiger, gesteigerter, alterirter geworden sind. Ob die Menschen von heute das Leben feiger und weichlicher lieben, als die von ehemals, weil Caterina im Tyrann von Padua weniger ergeben sich zum Tode bereitet, als die Iphigenia des Euripides oder Racine? Ob

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/301>, abgerufen am 26.06.2024.