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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Franzosen von selbst versteht, für den Alles, was nicht in Frankreich
besteht, werth ist, "daß eS zu Grunde gehe", fast ausschließlich auf
das französische Drama Rücksicht nimmt, und auf das fremdländische
nur in so fern, als dasselbe in Bezug auf jenes zu bringen ist, muß
dennoch bei Deutschen vielfaches Interesse anregen, nicht nur aus der
Mode-Ursache, weil es erstens nicht deutsch und weil es zweitens
französisch ist, sondern auch, weil es mit einer über dem Rheine nicht
täglich zu findenden Mäßigung und Einsicht den Stab bricht über
den Dämon der Uebertreibung, den die neuere französische Literatur
nicht besitzt, von dem sie besessen wird. Zudem kommt, daß' uns diese
öffentlich gehaltenen Vorlesungen auf die sociale Wichtigkeit hindeu¬
te!' können/ die in Frankreich dem Theater beigelegt wird und die
uns denkenden Deutschen nicht einfallen will, denen das Theater
weder eine Manifestation des öffentlichen Geistes, noch eine Tribune
für die Bestrebungen der Zeit, noch ein sorgfältig zu pflegender und
zu begünstigender Zweig der Literatur ist, sondern nur eine Erho¬
lungsart für genußmüdc Aristokraten, ein Spaß, eine veredelte Seil-
tänzerbudc.

Der Gedanke, der den Verfasser zu diesen Vorlesungen anregte,
war, zu zeigen, auf welche Art die älteren Autoren, und besonders die
des siebzehnten Jahrhunderts, die dein menschlichen Herzen natürlich,
sten Gefühle und Leidenschaften, wie Elternliebe, Eifersucht, Liebe,
Ehrgeiz ausdrückten und wie dieselben Gefühle und Leidenschaften in
unseren Tagen zur Anschauung gebracht werden. Und so sagt er
unter Ander",: Im Theater gibt es nichts Wahres, als das Allge"
meine? und das, was alle Welt nachempfindet. Von allen dramati¬
schen Leidenschaften ist die Liebe nur deshalb die rührendste, weil sie
die allgemeinste ist. DaS Herz wird nur ergriffen von Bewegungen,
die allen Herzen gemein sind; die Seltsamkeiten, Bizarrerien und Aus¬
nahmen können es nicht erschüttern. Und hierin schon liegt ein we¬
sentlicher Unterschied zwischen dem alten und modernen Theater; je¬
nes stellte die Gefühle so einfach dar, als sie aus der menschlichen
Natur hervorbrechen, während dieses die Seltsamkeiten und krankhaf¬
ten Steigerungen mit demselben Eifer hervorsucht, mit dem das äl¬
tere Theater sie vermied. Als das Drama die Erschütterungen er¬
schöpft hatte, die z. B. aus der Schilderung der Liebe in ihrer Ein¬
fachheit entsprangen, warf es sich auf die Ausmalung der seltsamen


Franzosen von selbst versteht, für den Alles, was nicht in Frankreich
besteht, werth ist, „daß eS zu Grunde gehe", fast ausschließlich auf
das französische Drama Rücksicht nimmt, und auf das fremdländische
nur in so fern, als dasselbe in Bezug auf jenes zu bringen ist, muß
dennoch bei Deutschen vielfaches Interesse anregen, nicht nur aus der
Mode-Ursache, weil es erstens nicht deutsch und weil es zweitens
französisch ist, sondern auch, weil es mit einer über dem Rheine nicht
täglich zu findenden Mäßigung und Einsicht den Stab bricht über
den Dämon der Uebertreibung, den die neuere französische Literatur
nicht besitzt, von dem sie besessen wird. Zudem kommt, daß' uns diese
öffentlich gehaltenen Vorlesungen auf die sociale Wichtigkeit hindeu¬
te!' können/ die in Frankreich dem Theater beigelegt wird und die
uns denkenden Deutschen nicht einfallen will, denen das Theater
weder eine Manifestation des öffentlichen Geistes, noch eine Tribune
für die Bestrebungen der Zeit, noch ein sorgfältig zu pflegender und
zu begünstigender Zweig der Literatur ist, sondern nur eine Erho¬
lungsart für genußmüdc Aristokraten, ein Spaß, eine veredelte Seil-
tänzerbudc.

Der Gedanke, der den Verfasser zu diesen Vorlesungen anregte,
war, zu zeigen, auf welche Art die älteren Autoren, und besonders die
des siebzehnten Jahrhunderts, die dein menschlichen Herzen natürlich,
sten Gefühle und Leidenschaften, wie Elternliebe, Eifersucht, Liebe,
Ehrgeiz ausdrückten und wie dieselben Gefühle und Leidenschaften in
unseren Tagen zur Anschauung gebracht werden. Und so sagt er
unter Ander»,: Im Theater gibt es nichts Wahres, als das Allge»
meine? und das, was alle Welt nachempfindet. Von allen dramati¬
schen Leidenschaften ist die Liebe nur deshalb die rührendste, weil sie
die allgemeinste ist. DaS Herz wird nur ergriffen von Bewegungen,
die allen Herzen gemein sind; die Seltsamkeiten, Bizarrerien und Aus¬
nahmen können es nicht erschüttern. Und hierin schon liegt ein we¬
sentlicher Unterschied zwischen dem alten und modernen Theater; je¬
nes stellte die Gefühle so einfach dar, als sie aus der menschlichen
Natur hervorbrechen, während dieses die Seltsamkeiten und krankhaf¬
ten Steigerungen mit demselben Eifer hervorsucht, mit dem das äl¬
tere Theater sie vermied. Als das Drama die Erschütterungen er¬
schöpft hatte, die z. B. aus der Schilderung der Liebe in ihrer Ein¬
fachheit entsprangen, warf es sich auf die Ausmalung der seltsamen


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[0298] Franzosen von selbst versteht, für den Alles, was nicht in Frankreich besteht, werth ist, „daß eS zu Grunde gehe", fast ausschließlich auf das französische Drama Rücksicht nimmt, und auf das fremdländische nur in so fern, als dasselbe in Bezug auf jenes zu bringen ist, muß dennoch bei Deutschen vielfaches Interesse anregen, nicht nur aus der Mode-Ursache, weil es erstens nicht deutsch und weil es zweitens französisch ist, sondern auch, weil es mit einer über dem Rheine nicht täglich zu findenden Mäßigung und Einsicht den Stab bricht über den Dämon der Uebertreibung, den die neuere französische Literatur nicht besitzt, von dem sie besessen wird. Zudem kommt, daß' uns diese öffentlich gehaltenen Vorlesungen auf die sociale Wichtigkeit hindeu¬ te!' können/ die in Frankreich dem Theater beigelegt wird und die uns denkenden Deutschen nicht einfallen will, denen das Theater weder eine Manifestation des öffentlichen Geistes, noch eine Tribune für die Bestrebungen der Zeit, noch ein sorgfältig zu pflegender und zu begünstigender Zweig der Literatur ist, sondern nur eine Erho¬ lungsart für genußmüdc Aristokraten, ein Spaß, eine veredelte Seil- tänzerbudc. Der Gedanke, der den Verfasser zu diesen Vorlesungen anregte, war, zu zeigen, auf welche Art die älteren Autoren, und besonders die des siebzehnten Jahrhunderts, die dein menschlichen Herzen natürlich, sten Gefühle und Leidenschaften, wie Elternliebe, Eifersucht, Liebe, Ehrgeiz ausdrückten und wie dieselben Gefühle und Leidenschaften in unseren Tagen zur Anschauung gebracht werden. Und so sagt er unter Ander»,: Im Theater gibt es nichts Wahres, als das Allge» meine? und das, was alle Welt nachempfindet. Von allen dramati¬ schen Leidenschaften ist die Liebe nur deshalb die rührendste, weil sie die allgemeinste ist. DaS Herz wird nur ergriffen von Bewegungen, die allen Herzen gemein sind; die Seltsamkeiten, Bizarrerien und Aus¬ nahmen können es nicht erschüttern. Und hierin schon liegt ein we¬ sentlicher Unterschied zwischen dem alten und modernen Theater; je¬ nes stellte die Gefühle so einfach dar, als sie aus der menschlichen Natur hervorbrechen, während dieses die Seltsamkeiten und krankhaf¬ ten Steigerungen mit demselben Eifer hervorsucht, mit dem das äl¬ tere Theater sie vermied. Als das Drama die Erschütterungen er¬ schöpft hatte, die z. B. aus der Schilderung der Liebe in ihrer Ein¬ fachheit entsprangen, warf es sich auf die Ausmalung der seltsamen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/298>, abgerufen am 26.06.2024.